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Hyperactive Agency Detection Device (HADD) und Natürliche Selektion

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Mein Blognachbar Michael Blume von Natur des Glaubens wird des Öfteren wegen seiner Studienergebnisse zur Religiosität und Kinderzahl, persönlich und fachlich angegriffen. Fazit seiner Forschungsarbeiten: Religiöse haben im Durchschnitt mehr Kinder als Nichtreligiöse. Viele Blogleser stellen dann die Frage: Kommt dieser Unterschied im Fortpflanzungserfolg durch natürliche (gerichtete) Selektion zustande?

Voraussetzungen für Natürliche Selektion

Um diese Frage beantworten zu können, muss man die Voraussetzungen für natürliche Selektion kennen. Für natürliche Selektion müssen drei Bedingungen gegeben sein:

1. Variation eines Merkmals

2. Erblichkeit dieses Merkmals

3. Der unterschiedliche Fortpflanzungserfolg von Individuen einer Population muss in einem kausalen Zusammenhang mit einer unterschiedlichen Ausprägung dieses Merkmal stehen.

Schauen wir uns also der Reihe nach an ob diese Bedingungen bei den Studien zu Religiosität und Kinderzahl erfüllt werden.

1. Variation eines Merkmals

Das Merkmal wäre für mich nicht Religiosität. Religiosität ist für mich nur eine Ausprägung des Merkmals Hyperactive Agency Detection Device (HADD). Genauso wenig wie “klein” ein Merkmal, sondern nur eine Ausprägung des kontinuierlichen physischen Merkmals Körpergröße ist.

stark ausgeprägtes HADD: Religiosität

mittel ausgeprägtes HADD: Agnostizismus

schwach ausgeprägtes HADD: Atheismus

Variation eines Merkmals: Ja

Problem 1a: Handelt es sich hier um ein kategorisches oder ein kontinuierliches Merkmal?

Ich tendiere zu einem kontinuierlichen Merkmal. Man kann sich allerdings auch auf den Standpunkt stellen: Entweder man ist religiös, agnostisch oder atheistisch. Es gibt keine Übergänge.

Problem 1b: Wie erfassen wir dieses Merkmal für eine Klassifizierung quantitativ?

Die Anzahl der regelmäßigen Gottesdienstbesuche in einem bestimmten Zeitraum z.B. Monat kann es nicht sein. Ich denke eine Erhebung mittels standardisierten
Multiple Choice-Fragenbogen plus Selbstauskunft sind da geeigneter. Die Auswertung könnte über ein Punktesystem erfolgen. Anschliessend kann man mit einer multivariaten Clusteranalyse auf der Basis der gemessenen Indikatoren eine Typologie der Befragten erstellen, die die drei HADD-Typen umfasst.

HADD schafft eine spezifische, perspektivische Wirklichkeitswahrnehmung. Dieser Vorgang lässt sich vergleichen mit der Wirkung eines Messinstruments oder Werkzeugs, Messinstruments einerseits dem Benutzer erst bestimmte Wahrnehmungen oder Handlungen ermöglicht, andererseits wiederum diese durch die ihm innewohnenden Grenzen determiniert. So ermöglicht z.B. die religiöse Interpretation von Schicksalsschlägen einerseits die Akzeptanz unabweisbarer Realitätserfahrung, andererseits kann durch die darin stattfindenden Kausalzuweisungen eine angemessene Realitätsbewältigung blockiert werden.

Problem 1c: HADD ist ein Konzept der evolutionären Psychologie.

Evolutionäre Psychologie ist umstritten und es wird gesagt, dass ihre Konzepte häufig nicht mehr als plausibel klingende Geschichten seien, die sich nicht im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung bestätigen oder widerlegen ließen. Zudem stehen insbesondere populärwissenschaftliche Erörterungen des Themas häufig in der Kritik: So würden etwa Unterschiede im geschlechtsspezifischen Verhalten reduktionistisch auf angeborene, biologische Merkmale zurückgeführt

Methodische Lösungsansätze: Entwicklungspsychologische Experimente mit Kindern zur Theorie auf Mind (TOM)

2. Erblichkeit dieses Merkmals

Ist HADD erblich? Ja

Problem 2a: Kulturelle und/oder biologische Vererbung?

Problem 2b: Biologische Erblichkeit wird vermutlich durch kulturelle Traditionen stark maskiert.

Methodische Lösungsansätze: Unethisches Kaspar-Hauser-Experiment, Zwillingsstudien

Wie ist der biologische Erbgang?

Denkbar ist eine polygene Vererbung wie beim körperlichen Merkmal Hautfarbe. Diese Gene sind polymorph - enthalten also mehr als ein Allel. Die Allele für Religiosität sind dominant. Diesem Konzept liegt, die Annahme zugrunde, dass der größte Teil der natürlich auftretenden Variation bei Menschen, Tieren und auch in Pflanzen durch geringe genetische Änderungen in einer großen Zahl von Genen, den so genannten Quantitative Trait Loci (QTL), verursacht wird. Mit einer Kombination von kopplungsbasierter QTL-Kartierung und Assoziationskartierung kann man versuchen diese Gene und ihre Allele zu identifizieren. Allerdings sind diese Verfahren statistisch sehr anspruchsvoll und langwierig.

Der Begriff kopplungsbasierte QTL-Kartierung fasst alle diejenigen Untersuchungen zusammen, die darauf abzielen, einzelne QTL zu identifizieren, deren Einfluss auf das Merkmal zu quantifizieren und ihre Position im Genom zu bestimmen. Die Assoziationskartierung nutzt keine spaltenden, sondern natürliche Populationen oder Kollektionen von Individuen. Die Assoziationskartierung erlaubt eine sehr viel höhere Auflösung sowie den Vergleich einer sehr viel höheren Anzahl von Allelen.

Problem 2c bei kontinuierlichem Merkmal: Variable Expressivität

Als Expressivität bezeichnet man in der Genetik die individuell unterschiedlich starke Ausprägung eines phänotypischen Merkmals bei identischem Genotyp. Ist diese Ausprägung trotz identischem Genotyp verschieden, spricht man von einer variablen Expressivität. Eine variable Expressivität kann beispielsweise durch Umwelteinflüsse während und nach der Embryonalentwicklung verursacht werden.

Problem 2d bei kategorischem Merkmal: Unvollständige Penetranz

Als Penetranz bezeichnet man in der Genetik die prozentuale Wahrscheinlichkeit, mit der ein bestimmter Genotyp den ihm zugehörigen Phänotyp ausbildet. Eine vollständige Penetranz liegt vor, wenn der Genotyp in allen Fällen zur Ausprägung des zugehörigen Merkmals führt. Bei einer unvollständigen Penetranz wird das Merkmal nicht in jedem Fall ausgeprägt. Der Gründe dafür können zum Beispiel kompensierende Gene oder auch Umwelteinflüsse sein.

Methodische Lösungsansätze: Computersimulationen zu den verschiedenen Modellen mit ihren unterschiedlichen Annahmen und Vergleich mit empirischen Daten.

3. Unterschiedlicher Fortpflanzungserfolg innerhalb einer Population

Findet man innerhalb einer Population bei Individuen mit unterschiedlicher Ausprägung des HADD Unterschiede im Fortpflanzungserfolg? Ja

Besteht ein kausaler Zusammenhang zwischen unterschiedlichem Fortpflanzungserfolg und unterschiedlicher Ausprägung des HADD?

Ein kausaler Zusammenhang lässt sich nicht ausschließen. Michael Blume und seine Forscherkollegen geben verschiedene Indizien für einen indirekten kausalen Zusammenhang an.

Problem 3: Emergenz

HADD ist schwer zu trennen von Vorschriften, Geboten und Werten, die kulturell weitergegeben werden -> Coevolution von Genen und Kultur, später künstliche Selektion

Wegmarken

Ich habe hier mal grob und ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige Probleme und deren partielle Lösungsansätze skizziert. Fest steht, dass für Fortschritte bei diesem spannendem aber sehr schwierigem Thema eine interdisziplinäre Zusammenarbeit notwendig ist. Leider habe ich bei den Kommentaren auf Michaels Blog gesehen, dass bei den Diskussionen zur Beantwortung dieser Frage viel aneinander vorbei geredet und einiges aus dem Kontext gerissen wird. Mein Anliegen ist es, mit der Verortung der Probleme, ein wenig Struktur in die ganze Diskussion zu bringen.

Weiterführende Literatur

Agency detection/HADD

Cognitive and neural foundations of religious belief

Charles Darwin II: Die „natürliche Selektion“ als Motor der Evolution

Vererbte Religion

The Making of the Fittest: Got Lactase? The Co-evolution of Genes and Culture


Mit Endspieldatenbanken der Wahrheit auf der Spur

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Ob es um die Torlinientechnik im Fußball oder die Hilfe von Computern bei mathematischen Beweisen geht: Expertensysteme haben in verschiedene Bereiche, in denen Menschen Entscheidungen treffen, wie Tor oder nicht Tor, wahr oder falsch, Einzug gehalten, so auch im Schach und dort im Endspiel, der Schlussphase der Partie, in der nur noch sehr wenige Steine auf dem Brett sind.

In der 5. Partie der aktuellen Schach-WM spielten Anand und Carlsen eine "Seeschlange" von 122 Zügen. Carlsen versuchte vergeblich das Endspiel König, Turm und Springer gegen König und Turm zu gewinnen, eine Konstellation die normalerweise Remis ist, die die schwächere Seite aber verlieren kann, wenn sie sich falsch verteidigt1, so geschehen in der Partie zwischen dem damaligen Weltranglistenersten der Männer, Garry Kasparov und der damaligen Weltranglistenersten der Frauen, Judit Polgar, in Dos Hermanas 1996. Seitdem versuchen, manchmal, auch andere Großmeister dieses Endspiel zu gewinnen, erst recht bei einer Weltmeisterschaft.

Doch wie lange sollen solche Gewinnversuche dauern?

Kann die stärkere Seite bis zum St. Nimmerleinstag spielen? Nein. Irgendwann muss Schluss sein.

Wenn ich die neuen FIDE-Regeln, die am 1. Juli diesen Jahres in Kraft getreten sind, richtig verstanden habe, hat man bei der Konstellation Turm und Springer gegen Turm dazu jetzt maximal 75 Züge Zeit, vorausgesetzt, dass die schwächere Seite, wenn Sie am Zug ist, vorher nicht durch die 50-Züge-Regel oder 3-malige Stellungswiederholung ein Remis reklamiert. (Entsteht 5-mal direkt hintereinander dieselbe Stellung, so ist die Partie ebenfalls Remis.)

Nach 75 Zügen ohne Bauernzug oder Schlagzug ist die Partie jedenfalls remis, ein etwaiges Matt im letzten Zug hat aber Vorrang.

Das liegt daran, dass im Endspiel eine Schachstellung nur irreversibel verändert werden kann, wenn
•    ein Bauer vorzieht,
•    ein Stein geschlagen wird,
•    oder nach dem Doppelzug eines Bauern ein Schlagen en passant möglich ist.

Mit welcher Materialverteilung kann man im Endspiel gewinnen?

Schauen wir uns einige der einfachsten Beispiele an: König und Figur(en) gegen König

Kategorie 1

König und Springer gegen König, König und Läufer gegen König: In diesen Endspielen kann die stärkere Seite den König nicht matt setzen, also nicht gewinnen. Die Partie ist remis.

Kategorie 2

König und Turm gegen König, König und Dame gegen König, König und 2 Läufer gegen König, König, Springer und Läufer gegen König: In diesen Endspielen lässt sich das Matt erzwingen. Die Partie ist gewonnen.

Kategorie 3

König und zwei Springer gegen König: Das Matt mit zwei Springern ist zwar technisch möglich, aber nur bei fehlerhaften Zügen des alleinstehenden Königs. Das Matt lässt sich also nicht erzwingen. Die Partie ist Remis

Allgemein strebt die schwächere Seite ein Endspiel der Kategorie 1 oder 3, die stärkere ein Endspiel der Kategorie 2 an. Der Weg dorthin ist in der Praxis jedoch mit vielen Stolpersteinen gepflastert.

Viel interessanter als Carlsens Versuch Blut aus einem Stein zu pressen, war daher die folgende Stellung aus der Partie Eric Hansen (Weiß, Kanada) gegen John Paul Gomez (Schwarz, Philippinen) in der letzten Runde der diesjährigen Schacholympiade in Tromsø, Norwegen.

2Springer

 Hansen - Gomez, Schacholympiade Tromsø 2014, Weiß gewinnt

Das von Alexei Troizki umfassend dargelegte Gewinnverfahren sieht vor, dass ein Springer den Bauern durch Blockade am Vordringen hindert2. Der andere Springer treibt zusammen mit dem König den gegnerischen König in eine Ecke. Danach wird der Blockadespringer zum Mattsetzen herangeführt. Dabei kann man dem König alle Zugmöglichkeiten nehmen, weil Schwarz mit dem Bauern wieder ziehen kann.

Schachcomputer mit Endspieldatenbanken haben berechnet, dass in der Diagrammstellung bei beiderseits bestem Spiel 92 Züge für den Gewinn erforderlich sind. Interessant wäre hier natürlich auch die Mindestzugzahl zum Gewinn gewesen, wenn die stärkere Seite immer die besten Züge macht und die schwächere Seite die schlechtesten.

Diese Stellung lässt sich also bei den derzeit gültigen Schachregeln sehr wahrscheinlich nicht gewinnen.

Die Stellung ist zwar theoretisch gewonnen aber in der Praxis werden nur sehr starke Großmeister (mit einer Elozahl über 2700) und Schachcomputer dieses Endspiel gewinnen können. Selbst wenn ein Hobbyspieler den allgemeinen Plan kennt, ist die detaillierte Umsetzung dieses Planes sehr sehr schwierig.

Es gibt einige andere Endspiele, die nur mit mehr als 50 Zügen oder nur aus bestimmten Positionen heraus gewonnen werden können. Beispiele sind König und Dame gegen König und Läuferpaar, König und Läuferpaar gegen König und Springer oder auch bestimmte Stellungen, in denen König, Turm und Läufer gegen König und Turm kämpfen. Allerdings sind diese Arten von Endspielen ziemlich selten in der modernen Turnierpraxis anzutreffen.

Mit Endspieldatenbanken3 kann man die Gewinnführung in diesen Endspielen lernen und trainieren, sodass sie zumindest unter Schachprofis mit der Zeit allmählich zum Wissensfundus werden. Die Spieler haben nun Anhaltspunkte dafür, wann es sich lohnt, weiter zu spielen.

Sollte man nun dank dieser neuen, durch Computer gewonnenen Erkenntnisse, die bestehenden Schachregeln ändern, um das Spiel fairer zu machen?

Eine Frage, die zwar seit einiger Zeit diskutiert wird, deren Bejahung aber bisher bei Profischachspielern kaum Unterstützer gefunden hat. Ich vermute, dass sich in den nächsten Jahren daran nichts ändern wird. Endspieldatenbanken werden für die Schachspieler weiter eine ähnliche Rolle wie die Beweisassistenten in der Mathematik spielen aber nie die Rolle einer Schiedsrichterhilfe wie die Torlinientechnik im Fußball.


 

Fußnoten

1. Indem die schwächere Seite in eine Stellung gerät, indem sie entweder das Matt nicht verhindern kann oder den Turm verliert. Natürlich kann theoretisch auch die schwächere Seite gewinnen, wenn die stärkere Seite sehr grobe Fehler macht, das ist aber im Profischach bei Turnierpartien mit normaler Bedenkzeit sehr unwahrscheinlich.

2. Weiß hat in der Diagrammstellung Glück, dass dieser Bauer noch nicht zu weit vorgerückt ist. Ist der Bauer bereits weit genug vorgerückt, so kann er durch seine Umwandlungsdrohung das drohende Matt verhindern. Im höheren Sinne ist der Bauer unverletzlich, weil durch das Schlagen dieses Bauern die Partie remis wird. Das Endspiel König und zwei Springer gegen König und Bauer ist also nicht allgemein gewonnen, sondern es kommt konkret darauf, wie weit der Bauer vorgerückt ist, ob ein Springer den Bauern rechtzeitig blockieren kann und ob der König dem Bauer zu Hilfe kommen kann.

3. Die Nalimov-Endspieldatenbank besteht aus 12 DVDs mit insgesamt 100 GB Datenumfang. Sie enthält die Auswertungen und Varianten für Endspiele mit 3-4-5-6 Steinen.

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Die Medienglaubwürdigkeit bei Jugendlichen in Deutschland 2014: Gibt es ein Internetparadox?

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In der JIM1-Studie 2014 des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest2 untersuchten Wissenschaftler u.a. das Image verschiedener Mediengattungen hinsichtlich der Glaubwürdigkeit. Hierzu fragten die Medienpädagogen telefonisch 1.200 Jugendliche zwischen zwölf und 19 Jahren im Frühsommer 2014, welchen Medien sie im Falle einer widersprüchlichen Berichterstattung am ehesten Glauben schenken würden – dem Radio, dem Fernsehen, dem Internet oder der Tageszeitung3?
Bei der Frage, welchem Medium sie bei einer widersprüchlichen Berichterstattung am ehesten Glauben schenken würden, nannten 40 Prozent die Tageszeitung. Es folgte das Fernsehen (26 Prozent), vor Radionachrichten (17 Prozent). Der Berichterstattung im Internet brachten dagegen nur 14 Prozent der Befragten Vertrauen entgegen.
Bei der Nutzungshäufigkeit steht allerdings das Internet weit vorne (94 Prozent) Über das Fernsehen informieren sich 83 Prozent der Jugendlichen, übers Radio 73 Prozent. Die Tageszeitungen waren mit nur 32 Prozent Lesern unter den Jugendlichen weit abgeschlagen.

Hier wird deutlich, dass häufige Nutzung nicht zwingend auch mit hoher Glaubwürdigkeit einhergeht und umgekehrt. Die Ergebnisse zeigen, dass Jugendliche trotz extremer Digitalisierung des Alltags in dieser Frage sehr konservativ urteilen.
Die Frage nach der Glaubwürdigkeit verschiedener Medien greift die JIM-Studie seit 2005 in unregelmäßigen Abständen immer wieder auf. Die Ergebnisse zeigen, dass sowohl Tageszeitung (2005: 42 %), Fernsehen (2005: 28 %) als auch Internet (2005: 16 %) in den letzten neun Jahren relativ konstante Werte hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit aufweisen, während das Radio (2005: 10 %) um sieben Prozentpunkte an Vertrauen gewonnen hat.

Diejenigen, die das Internet für das glaubwürdigste Informationsmedium halten, nennen als Internetseite mit jeweils 16 Prozent Spiegel Online und Google. An zweiter Stelle steht Wikipedia (15 %) danach folgt Facebook mit elf Prozent. Neun Prozent nennen YouTube als vertrauenswürdigstes Internetangebot, acht Prozent vertrauen auf die Websites der Süddeutschen Zeitung, der FAZ oder der ZEIT.

Die interessanteste Frage wurde in der JIM-Studie 2014 jedoch nicht gestellt:

Warum beurteilen Jugendliche ein Medium als glaubwürdig?

In der deskriptiven JIM-Studie bestimmten die Forscher nicht die Faktoren, die Medien für Jugendliche glaubwürdig machen. Dabei ist die Bestimmung dieser Faktoren nicht so trivial, wie man denkt, denn man darf nicht den Fehler machen Glaubwürdigkeit auf den Aspekt der faktengetreuen Wiedergabe von gesellschaftlicher Realität, zu reduzieren. Ich vermute, dass viele der befragten Jugendlichen genau das getan haben.

Glaubwürdigkeit ist nicht alleine eine objektive Eigenschaft des Mediums. Glaubwürdigkeit ist immer das Ergebnis eines Zuschreibungsprozesses vonseiten der Rezipienten - also subjektiv. Entscheidend ist somit, was die Rezipienten wahrnehmen. Ob ein Medium oder Beitrag objektiv glaubwürdig ist, lässt sich dagegen nicht bestimmen.

Glaubwürdigkeit ist nicht direkt messbar, sondern ein multifaktorielles Konstrukt4. Es wäre interessant zu erfahren wie technische Eigenschaften des Mediums und dessen Verfügbarkeit zu dessen Glaubwürdigkeit beitragen, denn eigentlich sollte es egal sein ob jemand einen Artikel in der Printausgabe oder auf der Website einer Zeitung liest.

Die Glaubwürdigkeit des Kommunikators

Medien benötigen einen menschlichen Kommunikator der schreibt oder spricht.

Wie kann man die Glaubwürdigkeit des Kommunikators getrennt von der Glaubwürdigkeit des Mediums untersuchen?

Die ersten Untersuchungen zu Glaubwürdigkeit des Kommunikators gehen auf die Yale-Gruppe um Carl Hovland zurück. Hovland und Weiss (1951) bestimmten zunächst zwei Faktoren von Glaubwürdigkeit. Nach den beiden Forschern ist Glaubwürdigkeit eine Funktion der Faktoren Sachverstand (expertness) und Vertrauenswürdigkeit (trustworthiness). Es handelt sich hierbei einerseits um die dem Kommunikator unterstellte Fähigkeit, richtige Aussagen zu machen, und andererseits um das Vertrauen der Rezipienten in den Kommunikator, richtige Aussagen zu machen.

Welche Unterkriterien werden zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Kommunikators herangezogen?

Variablen für Sachverstand sind z. B. Alter als Indikator für Erfahrung, Führungsrollen (Leadership) und Ähnlichkeit mit dem Rezipienten (als Indikator für eine gleiche Sichtweise und damit gleiche Ausgangsbasis für Bewertungen).
Das erklärt warum der Investigativjournalist Günter Wallraff, der als schwarz geschminkter Weißer5 über seine Rassismuserfahrungen in Deutschland berichtete, für manche Weiße glaubwürdiger sein kann als schwarze Menschen, die in Deutschland leben und darüber berichten. Fachsprache wirkt sich positiv auf den Glauben an Sachverstand aus, Dialekt negativ.

Bei Vertrauenswürdigkeit führt z. B. die Wahrnehmung einer Überzeugungsabsicht zur Abnahme der Vertrauenswürdigkeit. Wichtig für die Wahrnehmung von Motiven und Intentionen des Kommunikators sind typisches berufliches Kommunikationsverhalten. Es ist einleuchtend, das sich ein Beruf in der PR oder Werbung, Branchen die Eigeninteressen verpflichtet sind, negativ auf die Glaubwürdigkeit eines Kommunikators auswirkt. Auch hier bemühe ich wieder das oben genannte Günter Wallraff-Beispiel: Ich vermute, dass bei einem Bericht von einem Schwarzen über Rassismus in Deutschland, dem Kommunikator unterstellt wird, dass er mit dem Bericht nicht auf ein existierendes gesellschaftliches Problem aufmerksam will, sondern nur Privilegien einfordern will. Er ist also befangen und deshalb weniger vetrauenswürdig.

Gibt es ein Internetparadox der Medienglaubwürdigkeit?

Paradox finde ich, dass das Internet im Vergleich zu einer Tageszeitung relativ schlecht abschneidet, obwohl in der journalistischen Darstellungspraxis der Hypertext zusätzlich mit Video, Animationen, Ton, Links, die Glaubwürdigkeit des Kommunikators und der Nachricht wirkungsvoll unterstützen kann. In der Tageszeitung habe ich den Text und erfahre zusätzlich nur den Namen des Journalisten - sonst nichts. Um mehr über ihn und die Hintergründe der Nachricht zu erfahren, müsste ich wieder im Internet recherchieren – Merkt ihr was?

Tageszeitungen kann man auch im Internet lesen, sofern nicht wie beim "Kölner Stadtanzeiger" oder "Die Welt" die Anzahl der frei lesbaren Artikel pro Monat für Nicht-Abonnenten begrenzt ist.

Auch die Art und Anzahl der Kommentare haben Einfluss auf die Glaubwürdigkeit der Nachricht und des Kommunikators. (Wisdom of Crowd?/Shitstorm) Im Internet erscheinen Kommentare häufig in Echtzeit, in der Tageszeitung erst in der nächsten Ausgabe. Nicht jeder Leserbrief wird veröffentlicht, aber auch im Internet wird nicht jeder Kommentar freigeschaltet und mancher wird wieder gelöscht.

Wahrscheinlich ist es so, dass Jugendliche (und nicht nur die) denken, wenn jemandem durch das Internet eine solche Fülle von technischen Möglichkeiten zur Verfügung steht, wird er sie auch nutzen – zur Manipulation und um sich selbst zu “inszenieren”. Abseits der Nachrichtenwebsites trifft man im Internet im Vergleich zur Tageszeitung auf viele Hoaxes und Fakes. Im Internet kann man sich auch wunderbar seine individuelle Filterblase basteln. Das Problem wäre also die mangelnde Vertrauenswürdigkeit.

Vielleicht vermuten Jugendliche auch einen anderen Prozess der Recherche oder einen qualitativ schlechteren beim Internet als bei der Tageszeitung. Es wird ja gemunkelt, dass Online-Journalisten von ihren Redaktionen nicht so viel Zeit für die Recherche zugestanden wird. Zusätzlich ist so, dass im Internet - abseits der Nachrichtenwebsites - jeder “Hinz und Kunz” berichten darf: Sei es auf seiner Facebook-Page, seinem YouTube-Channel, seinem Blog, seinem Podcast - bei der Tageszeitung geht das nicht. Vermutlich wirkt sich das positiv auf die Glaubwürdigkeit dieses Mediums aus. Das Problem wäre also der mangelnde Sachverstand.

Wahrscheinlich spielen beide Probleme eine Rolle. Ich weiß nicht, ob eine Follow-up-Studie geplant ist, die die Faktoren von Medienglaubwürdigkeit bei Jugendlichen in Deutschland analysiert. Wenn ja, hoffe ich, dass darin auch Blogs erfasst werden.


Fußnoten

1. JIM (Jugend, Information, (Multi-) Media)

2. Der Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest ist eine Kooperation der Landesanstalt für Kommunikation Baden Württemberg (LFK) und der Landeszentrale für Medien und Kommunikation Rheinland Pfalz (LMK). Die Durchführung der Studie erfolgt in Zusammenarbeit mit dem Südwestrundfunk (SWR). Kooperationspartner bei der JIM-Studie ist die Zeitungs Marketing Gesellschaft (ZMG).

3. Die Fragestellung lautete: „Stell Dir mal vor, Du wirst im Radio, im Fernsehen, in Tageszeitungen oder im Internet über ein und dasselbe Ereignis informiert, die Berichte widersprechen sich aber bzw. sind voneinander verschieden. Wem würdest Du am ehesten glauben: dem Radio, dem Fernsehen, dem Internet oder der Tageszeitung?“

4. Studien versuchen die Faktoren der Medienglaubwürdigkeit mithilfe semantischer Skalen und des statistischen Verfahrens der explorativen Faktorenanalyse, zu ermitteln. Dabei muss auf eine für die Interpretation bedeutsame Eigenheit von explorativen Faktorenanalysen hingewiesen werden: Bei diesem Verfahren werden Variablenausprägungen, die überzufällig oft zusammenfallen, zu einem Faktor zusammengefasst (mit dem Sie korrelieren). Zusätzlich nimmt der Forscher, durch die Wahl der einzubeziehenden Variablen Einfluss auf das Ergebnis und die Benennung der letztlich ermittelten Faktoren liegt gänzlich in seinem Ermessen.

5. Günter Wallraff war schwarz geschminkt als Somalier Kwami Ogonno in Deutschland unterwegs, um über den alltäglichen Rassismus zu berichten. Er besuchte ein Fußballspiel in Cottbus, machte sich auf Wohnungssuche in Köln, ging in eine Rosenheimer Kneipe. Mit versteckter Kamera dokumentierte er seine Erlebnisse in dem Film "Schwarz auf Weiß" von Pagonis Pagonakis.

Weiterführende Literatur

Hovland, Carl I. & Weiss, Walter (1951) The influence of source credibility on communication effectiveness. Public Opinion Quarterly, 15. Jg., 635-650.

Bentele, Günter (1988) Der Faktor Glaubwürdigkeit. Forschungsergebnisse und Fragen für die Sozialisationsperspektive. Publizistik, 33. Jg., 406-426.

Köhnken, Günter (1990) Glaubwürdigkeit. Untersuchungen zu einem psychologischen
Konstrukt. München.

#YallaCSU und der Versuch einer Quellenkritik

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Als Beitrag für den Hashtag #YallaCSU twitterte @kapturak am 6.Dezember 2014 den folgenden Kommentar "Sprecht zu Hause gut Deutsch!" aus der Egerer Zeitung vom 26.8.1919.

egerzeitung

Er zitierte aus dem Kommentar den Satz:

Noch immer hört man das französische ‚Papa und Mama‘ statt dem gut deutschen ‚Vater und Mutter."

Die Egerer Zeitung mit dem Untertitel "Wochenschrift für gemeinnützige Interessen" war eine Wochenzeitschrift für Eger und das Egerland. Die Region Eger erstreckte sich vom Kern des Fichtelgebirges bis an den Ostrand des Egerer Beckens und lag so vor einem der natürlichen Eingangstore nach Böhmen. Eger gehörte bis zum Ende des Ersten Weltkrieges zur Habsburger Monarchie. 1918/19 nach dem Ersten Weltkrieg kam das Egerland gegen den Willen der Bevölkerung zur neu gebildeten Tschechoslowakei. Die Bewohner Egers und des Egerlandes wurden nun  "Sudetendeutsche", eine 1902 entstandene, bis dahin sporadisch verwendete, Eigenbezeichnung, die etwa drei Millionen Deutschböhmen, Deutschmährer und Deutschschlesier zusammenfasste. Nach 1918 untersagten die tschechoslowakischen Behörden die Verwendung der Begriffe „Deutschböhmen“, „Deutschmährer“ und „Deutschschlesier“.

Der Kommentar in der Egerer Zeitung wurde 2 Monate nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrages und 14 Monate nach der Gründung der Tschechoslowakei verfasst. In diesem historischen Kontext verstehe ich ihn als Aufruf an die Sudetendeutschen im Egerland zu Hause ihre Muttersprache, das Deutsche, zu pflegen und vor allem nicht französische Fremd/Lehnwörter zu benutzen. Er schreibt ja auch: "Deutsche pfleget eure Muttersprache!" 

Assimiliert euch nicht, pflegt eure Wurzeln und bewahrt euch eure kulturelle Eigenständigkeit. So könnte man es positiv formulieren (im Zweifelsfall für den Angeklagten). Im Vergleich zur CSU geschieht die Aufforderung Deutsch zu sprechen hier also aus der genau entgegengesetzten Motivation, weil es hier - plakativ gesprochen - um eine deutsche Minderheit im Ausland und nicht um eine ausländische Minderheit in Deutschland geht.

Trotz der unterschiedlichen Situationen vermute ich jedoch, dass sich sowohl der Verfasser des Kommentars als auch die CSU, die Praktizierung einer deutschen Leitkultur im Privaten wünschen - angefangen bei der Sprache. Das wäre das gemeinsame Hauptmotiv.

Die coolsten Proteine der Welt: Anti-Frost-Proteine

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Winter is coming und deshalb ziehe ich manchmal an jedem Fuß zwei Strümpfe übereinander an um gegen den Frost gewappnet zu sein. Verständlich, dass ich Tiere beneide, die an Frost sehr gut angepasst sind, sei es durch einen Pelz oder Anti-Frost-Proteine. Diese sind, obwohl ihre Entdeckungsgeschichte und ihr Wirkmechanismus ziemlich spannend sind, weit weniger bekannt als die Keratine (eine Klasse von Proteinen) im Pelz oder die Hitzeschockproteine.

Warum ist das Einfrieren der Körperflüssigkeiten so lebensgefährlich für Organismen?

Das Zytoplasma tierischer Zellen hat einen Wasseranteil von 80 bis 85 Prozent, wobei das meiste Wasser in Hydrathüllen gebunden ist. Bei Frost quetschen wachsende Eiskristalle im Zytoplasma die Zellen von innen und beschädigen das Zytoskelett ebenso wie intrazelluläre Membransysteme und den Zellkern. Zusätzlich kommt es beim Wasserentzug durch Kristallisation zu diversen schädlichen Effekten, die als „solution effects“ zusammengefasst werden.

Durch die Erhöhung der Osmolarität und der Ionenkonzentration kommt es zur Denaturierung von Proteinen. In der analytischen Biochemie ist dieser Effekt als „aussalzen“ von Proteinen bekannt und wird zur deren Aufreinigung eingesetzt. Mit dem weiteren Verlust des Wassers durch Kristallisation schwindet die Hydrathülle von Makromolekülen und der Membran. Die Hydrathülle spielt beim Erhalt der dreidimensionalen Struktur von Proteinen, und damit ihrer biochemischen Funktion, eine wichtige Rolle.

Biologische Membranen besitzen einen Wasseranteil von etwa 10%, wobei Wassermoleküle sowohl in der hydrophilen Kopfregion als auch im lipophilen Teil der Lipide zu finden sind, wo sie als Platzhalter („Spacer“) fungieren. Wird dieses Wasser entzogen, lagern sich die Kohlenwasserstoffketten aufgrund der hydrophoben Wechselwirkungen (Van-der-Waals-Kräfte) dichter zusammen. Durch den festeren Zusammenhalt erhöht sich der Schmelzpunkt der Membran. Das heißt, die Membran geht vom Flüssigkristall- in den Gelzustand über. Im Gelzustand ist die Membran wesentlich weniger flexibel und bricht vor allem an der Kontaktzone zwischen Lipiden und Membranproteinen.

Die Entdeckung der Anti-Frost-Proteine

Die Suche nach Anti-Frost-Proteinen begann in den 1950er mit den Arbeiten des schwedisch-norwegischen Tierphysiologen Per Fredrik Thorkelsson Scholander: Der untersuchte, warum arktische Fische in Wasser überleben können, das Temperaturen aufweist, die unter dem Gefrierpunkt ihres eigenen Blutes liegen. Bei Temperaturen von minus 1,8° C müsste eigentlich jeder Fisch erstarren. Der Grund: Der Gefrierpunkt für Fischblut liegt bei ungefähr minus 0,9° C. Seine Experimente veranlassten ihn zu der Annahme, dass es ein Antifrostmittel in ihrem Blut geben müsse. Ende der 1960er Jahre konnte der Zoologe Arthur DeVries das erste Anti-Frost-Protein aus antarktischen Fischen isolieren.

Dieses Schutzprotein, das das Einfrieren der Körperflüssigkeiten verhindert und damit das Überleben im Wasser auch bei extrem niedrigen Temperaturen ermöglicht, entstand genau in jener Zeit der Erdgeschichte, in der sich die Antarktis enorm abkühlte und zu einer extrem lebensfeindlichen Umgebung wurde. Unmittelbar nach der Erfindung des Anti-Frost-Proteins begann die Auffächerung der Antarktisfische, der sogenannten Notothenioidei, in eine Vielzahl von Arten [1]. Die Notothenioidei konnten nun eine neue ökologische Nische erobern - die eisigen Gewässer der Antarktis.

Die Diversität von Anti-Frost-Proteinen

Insgesamt kennen die Biologen heute etwa 30 Anti-Frost-Proteine in Bakterien, Pflanzen, Insekten und Fischen. Sie werden in fünf Klassen einteilt, sind meist 35 bis 45 Aminosäuren lang und damit ziemlich kleine Proteine. (Ich habe keine Ahnung, warum man hier nicht von Anti-Frost-Peptiden spricht.)

Die Klassen von Anti-Frost-Proteinen
MerkmalAFGPAFP Typ IAFP Typ IIAFP Typ IIIAFP Typ IV
Molekulare Masse (Daltons) 2,600 - 33,000 3,300 - 4,500 11,000 - 24,000 6,500 12,229
Primärstruktur (Alanin-Alanin- Threonin)n Disaccharid Alaninreich, viele Kopien von 11xAA-Wiederholungen Cysteinreich, Disulfidbrücken generell 17% Glutamin, keine Disulfidbrücken, generell
Kohlenhydrate Ja Nein Nein, (Ausnahme Goldlachs 3% Kohlenhydrate) Nein Nein
Sekundärstruktur erweitert α-Helix, amphiphil β-Faltblatt β-Sandwich α-Helix, amphiphatisch
Tertiärstruktur Nicht bestimmt 100% Helix Nicht bestimmt Nicht bestimmt Vier Helices antiparallel gebündelt
Biosynthese Multiprotein Prepro-AFP Prepro-AFP (?) Pro-AFP keine post-translationalen
Modifikationen
Proteinbestandteile 8 7 2-6 12 1
Genkopien Nicht bestimmt 80 - 100 15 30-150 Nicht bestimmt
Natürliche HerkunftAntarktische Notothenioidei, Kabeljau, Grönland-KabeljauWinterflunder, SüßwassersteinfischSeerabe, Goldlachs, HeringMeeres-Dickkopf, SeewolfMyoxocephalus octodecemspinosus

Wie man in der obigen Tabelle sieht, sind Anti-Frost-Proteine völlig unterschiedlich aufgebaut, was ein starkes Indiz für eine konvergente Evolution dieser Proteinklasse ist. Sie können Glykoproteine sein, Disulfidbrücken besitzen oder auch Knäuel ohne besondere Merkmale sein. Gut untersucht und am längsten bekannt sind die Anti-Frost-Proteine von Fischen wie der Winterflunder. Sie bilden eine Helix mit positiv und negativ geladenen Resten, die nach außen zeigen.

Das Gefrieren von wässrigen Lösungen

Um den Wirkmechanismus von Anti-Frost-Proteinen zu verstehen, muss man die drei verschiedenen Phasen des Gefrierens von wässriger Lösung kennen: Unterkühlung, Nukleation und Eiskristallwachstum.

In unterkühlter Lösung liegt die Temperatur unterhalb des Gefrierpunktes es haben sich aber noch keine Eiskristalle gebildet. Der unterkühlte Zustand ist eine metastabile Phase und kann z.B. durch mechanische Erschütterung bereits beendet werden.

Die Entstehung eines Kristallkeims (auch Kristallembryo genannt), die Nukleation, ist der geschwindigkeitsbestimmende Schritt beim Gefrieren. Bei der Nukleation1 bildet sich ein sogenanntes „flickering cluster“, ein Netzwerk von Wassermolekülen, die über Wasserstoffbrückenbindungen miteinander verbunden sind. Damit aus dem flickering cluster ein Kristallgitter entstehen kann, müssen diese Bindungen gelöst werden.

Kristallgitter bilden sich in der unterkühlten flüssigen Phase ständig spontan, aber durch die frei werdende Energie (die Entropie nimmt ab beim Phasenübergang von flüssig zu fest, d.h., die Enthalpie nimmt zu, was zu einer hohen Oberflächenenergie an der Phasengrenze führt) dissoziieren die Kristallkeime genauso schnell wieder. Erst ab einer bestimmten Größe ist ein Kristallkeim stabil und wächst. Die kritische Größe sinkt mit abnehmender Temperatur.

Bei –40°C beträgt die kritische Größe 11,3 Å (Radius) d.h., es sind ca. 190 Wassermoleküle notwendig um die minimale Größe eines stabilen Nukleationskeimes zu bilden. Am Anfang bilden sich wenige kleine Kristallembryonen. Je größer das Wasservolumen, desto wahrscheinlicher bildet sich irgendwo ein Kristallembryo, der groß genug ist, als Kristallisationskeim zu dienen. Das Kristallwachstum2 setzt in unterkühlter Flüssigkeit ein, sobald mindestens ein Kristallkeim entstanden ist. Kristallisationskeime stehlen Wassermoleküle von den Kristallembryonen in ihrer unmittelbaren Umgebung.

Kristallstuktur von Eis mit Blick entlang der c-Achse. Die gestrichtelten Bindungen markieren die Wasserstoffbrücken

Kristallstuktur von Eis mit Blick entlang der c-Achse. Die gestrichtelten Bindungen markieren die Wasserstoffbrücken

Das Eiskristallwachstum nach der Nukleation läuft in drei Schritten ab: Annäherung des Wassermoleküls, Anbindung an den Eiskristall und Abfuhr der Kristallisationswärme. Die Geschwindigkeit des Kristallwachstums wird überwiegend bestimmt durch die mögliche Annäherungsgeschwindigkeit des Wassermoleküls, z.B. durch die Viskosität der Lösung bzw. die Verfügbarkeit von freien Wassermolekülen und die Abfuhr der Kristallisationswärme, z.B. durch Wärmeleitfähigkeit des Kristalls bzw. Flüssigkeit oder der Temperatur.

Die Abfuhr der Kristallisationswärme bedingt die Form des Eiskristalls. Gefrieren z.B. wässrige Lösungen an der Oberfläche, wird die Wärme überwiegend über die Eisphase abgeleitet und an die Umgebungsluft abgegeben. Es entstehen Eiskristalle mit sehr glatter Oberfläche. Kristallisiert Eis in Flüssigkeit oder in Luft (aus Wasserdampf), werden dendritische Formen (Schneeflocken) bevorzugt, da die Austauschfläche an den Spitzen der Dendriten größer ist.

Schneeflocke

Schneeflocke

Liegt Wasser nicht in reiner Form vor, sondern enthält gelöste Stoffe, ist das Verhalten bei sinkender Temperatur komplexer. Gelöste Stoffe senken allgemein das chemische Potenzial (μ) von Wasser, was zu einer Erhöhung der Siedetemperatur und Senkung des Gefrierpunktes führt, da bei einer bestimmten Temperatur die Phase mit dem niedrigsten μ am stabilsten ist. Dies ist eine so genannte kolligative Eigenschaft, da die Stoffmenge für das Ausmaß der Temperaturveränderung maßgeblich ist und nicht die Stoffart. Pro Osmol sinkt der Gefrierpunkt von Wasser um 1,86°C. Genutzt wird dieses Phänomen z.B. bei der Salzstreuung im Winter um Eisglätte zu verhindern.

In wässrigen Lösungen findet heterogene Nukleation statt, es liegt ein Nukleationskeim vor, der nicht rein aus Wassermolekülen besteht. Ein heterogener Nukleationskeim besitzt eine molekulare Oberfläche, die in ihrem Muster von Wasserstoffbrückendonoren und -akzeptoren einem Eiskristall ähnelt. Beim Gefrieren wässriger Lösungen kommt es stets zu einer Phasentrennung von Lösungsmittel und gelösten Stoffen. Beim Phasenübergang kristallisiert Wasser und konzentriert die gelösten Stoffe auf. Ab der Löslichkeitsgrenze fallen zunehmend Feststoffe aus, sodass reines Eis und hydratisiertes Salz vorliegen.

Konventionelle künstliche und natürliche Antifrost-Mittel bestehen meist aus kleinen Molekülen, die in hohen Konzentrationen den Gefrierpunkt senken. Der Käfer Upis ceramboides krabbelt durch Alaska und schützt sich durch ein großes Molekül aus dem Vielfachzucker Xylomannan vor dem Erfrieren. Er benutzt damit eines der wenigen Frostschutzmittel im Tierreich, das nicht auf einer Proteinstruktur basiert. Bei großen Molekülen wie Xylomannan genügen dagegen geringe Mengen: Sie binden sich einfach in die Eiskristallgitter ein und verhindern so deren für Zellen gefährliches Wachstum.

Ein weiteres Phänomen, das in wässrigen Lösungen auftritt, ist die sogenannte Vitrifikation (Verglasung), die in Konkurrenz zur Kristallisation auftritt, auf diese werde ich hier aber nicht weiter eingehen.

Anti-Frost-Proteine blockieren das Eiskristallwachstum

Alle Anti-Frost-Proteine wirken auf die gleiche Weise: Sie binden an Eiskristalle und verhindern oder verlangsamen deren Wachstum. Die Dipolmoleküle binden dann an die polare Oberfläche eines entstehenden Eiskristalls. Dadurch wird die weitere Anlagerung von Wassermolekülen blockiert, schließlich hört der Kristall ganz zu wachsen auf. Normalerweise breitet sich ein Eiskristall dreidimensional sehr schnell aus. Sind AFPs anwesend, lässt sich unter dem Mikroskop beobachten, wie sich jetzt statt eines großen Kristalls viele kleine bilden, die eine bipyramidale Form haben. Anti-Frost-Proteine erniedrigen den Gefrierpunkt von Wasser um einige Grad aber überraschenderweise ändern sie nicht den Schmelzpunkt von Eis. Diesen Effekt nennt man thermische Hysterese.

Forscher entdeckten letztes Jahr einen neuen Wirkmechanismus beim Anti-Frost-Protein des Feuerkäfers Dendroides canadensis. Seine Larven überstehen den Winter selbst bei –30°C. Das AFP des Feuerkäfers ist zehn bis hundert Mal aktiver als die AFPs von arktischen und antarktischen Fischen. Die Wissenschaftler extrahierten Anti-Frost-Proteine aus Käferlarven und gaben etwas davon in Wasserproben. Mithilfe eines sogenannten Terahertz-Spektrometers beobachteten sie dann die Wassermoleküle in der unmittelbaren Umgebung des AFPs. Normalerweise trennen und verbinden sich Wassermoleküle durchschnittlich eine Billion Mal pro Sekunde. In unmittelbarer Nähe zu den Frostschutzproteinen verlangsamte sich der Schlagabtausch der Wassermoleküle. Die Verbindungen zwischen den Wassermolekülen öffneten und schlossen sich nun bis zu dreimal langsamer. Je langsamer sich diese Verbindungen öffnen und schließen, desto kälter kann es sein, bevor das Wasser gefriert. Bei einer Wassertemperatur von 20°C  würden Wassermoleküle noch in der siebten Lage beeinflusst, schreiben die Wissenschaftler.

Das bedeutet: Wenn Wassermoleküle in mehreren Kreisen um ein Frostschutzprotein herumwirbeln, dann öffneten und schlossen sich die Verbindungen zwischen den Wassermolekülen in den sieben innersten Kreisen langsamer. Das AFP des untersuchten Feuerkäfers ist effizienter als die AFPs von anderen Tieren, weil sich die beiden Mechanismen unterstützen.

Anwendungen in der Industrie

In einigen Ländern werden die AFPs aus Fischen bereits Lebensmitteln zugemischt. Der Konzern Unilever, Hersteller von Magnum-Eis lässt ein entsprechendes Protein von einer gentechnisch veränderten Hefe erzeugen. Speiseeis wird damit noch cremiger, da beim Gefrieren keine groben Eiskristalle entstehen. In den USA, Australien, Neuseeland und mehreren südamerikanischen Ländern ist dieses Eis bereits zugelassen ­Zuvor eingefrorene Brötchen schrumpfen beim Auftauen und werden schnell trocken. Forscher arbeiten bereits daran, wie man diesen Gefrierbrand verhindern kann.

Gemeinsam wollen Biologen und Lackforscher am Fraunhofer Institut für Fertigungstechnik und Angewandte Materialforschung (IFAM) in Bremen neue Beschichtungen mit eingebautem Anti-Eis-Effekt entwickeln. Damit könnten sie die Tragflächen von Flugzeugen, Windenergieanlagen, Strommasten und -kabeln frostfest machen. Das langwierige Enteisen von Flugzeugen wäre dann nicht mehr nötig. Auch Strommasten würden im Winter nicht unter der Eislast zusammenbrechen und viele Haushalte von der Stromversorgung abschneiden.

Fußnoten

1. Man spricht in dem Fall, wenn ausschließlich Wassermoleküle den Keim bilden, von homogener Nukleation. Die homogene Nukleationstemperatur ist abhängig vom Volumen. Für einen 1μm großen Tropfen beträgt sie -39°C und steigt um 2°C beim Anstieg des Tropfendurchmessers um den Faktor 10 für tierische Zellen wird daher eine homogene Nukleationstemperatur im Bereich von -38°C - -44°C erwartet.

2. Wässrige Lösung kann selbst unter idealen Bedingungen nicht beliebig weit unterkühlt werden. Spätestens an der homogenen Nukleationstemperatur von etwa -40°C (der aktuelle Rekord der Unterkühlung von reinem Wasser liegt bei -42,15°C) ist die minimale Größe so gering (ca. 190 Moleküle), dass sich Wassermoleküle spontan zu einem Nukleationskeim zusammenlagern.

Weiterführende Literatur

[1] Matschiner M, Hanel R, Salzburger W (2011) On the Origin and Trigger of the Notothenioid Adaptive Radiation. PLoS ONE 6(4): e18911.

Meister K, Ebbinghaus S, Xu Y, Duman JG, DeVries A, Gruebele M, Leitner DM, Havenith M. (2013) Long-range protein-water dynamics in hyperactive insect antifreeze proteins. Proc Natl Acad Sci U S A. 110(5):1617-1622.

Eisfreie Oberflächen durch Anti-Frost-Proteine

Extreme Minusgrade: Frostschutzproteine schützen Feuerkäfer

Frostschutzprotein bildet erweiterte Hydrathülle

Bildnachweis

Bild Eiskristall

Date: 18 June 2006
Source: own drawing, created with Diamond 3.1
Author: Solid State

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Bild Schneeflocke

Date: 15 January 2009, 08:24
Source: snowflake 20090115_0730
Author: Michael from U.S.A.

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Die Cordobenser Märtyrer

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Der Ku-Klux-Klan (KKK) ist die bekannteste extremistische Gruppe, die ihr Handeln mit einer besonderen Auslegung des Christentums begründet. Der KKK sieht sich als radikale protestantische Organisation, für die die Unterdrückung von Schwarzen, Juden, Katholiken und Homosexuellen ein Teil von „Gottes Plan“ ist.

Ku-Klux-Klan-Mitglieder und ein brennendes Kreuz, Denver, Colorado, 1921. Das brennende Kreuz ist  wohl das bekannteste Symbol des KKK. Es soll das Licht Jesu Christi symbolisieren.

Ku-Klux-Klan-Mitglieder und ein brennendes Kreuz, Denver, Colorado, 1921. Das brennende Kreuz ist wohl das bekannteste Symbol des KKK. Es soll das Licht Jesu Christi symbolisieren.

Weniger bekannt ist leider, dass schon viele Jahrhunderte vor dem KKK extremistische Gruppen, im Namen des Christentums, den Gesellschaften, in denen sie lebten, schadeten: Erstens, weil durch sie Menschen starben und zweitens, weil sie die damals herrschende öffentliche Ordnung störten. Besonders interessant für Europäer, ist dabei die Zeit der Mauren, die fast 800 Jahre lang (711 – 1492 n Chr.) Spanien kolonisierten und damit nicht nur die arabische Kultur und Sprache nach Europa brachten, sondern auch den Islam. Die dort zuvor herrschenden Westgoten hatten 589, auf dem 3. Konzil von Toledo, ihren Übertritt zum Katholizismus besiegelt. Zurzeit der maurischen Kolonisierung bestand die spanische Bevölkerung also mehrheitlich aus Christen.

Der westgotische Katholizismus

Der westgotische Katholizismus war ein christlicher Antijudaismus: Mit dem Übergang zum katholischen Glauben wurden die Juden Spaniens zur Zielscheibe strenger Verfolgungen: Synagogen, Grundbesitz und Religionsausübung wurden ihnen verboten. Sie wurden unter den Westgotenkönigen Sisebut (612-620) und Chintila (636-639) vor die Alternative ‚„Taufe oder Auswanderung“ gestellt. Nicht weniger als sechshunderttausend von ihnen wurden zwangsgetauft. Später wurde die Aufrichtigkeit derer, die konvertiert hatten, bezweifelt. Schließlich beschloss 694 das 17. Konzil von Toledo, den Besitz der jüdischen Konvertiten zu konfiszieren. Diese selbst sollten, versklavt und über das ganze Reichsterritorium verstreut, christlichen Besitzern übergeben werden. Ihre Kinder ab dem Alter von 7 Jahren waren den Christen zur Erziehung zu übergeben.

Die arabische Assimilation in Cordoba in der Mitte des 9. Jahrhunderts

Zurzeit der Herrschaft (822-852 n Chr.) von Abd-ar Rahman II, dem Emir von Cordoba, hatten sich die Bekehrungen zum Islam vervielfacht, sodass die Zahl der Muwalladūn wuchs. In der islamischen Geschichte bezeichnet Muwalladūn in einem weiteren Sinn nicht-arabische Neu-Muslime, d.h. die Nachfahren von Konvertiten. Die Assimilation war so weit fortgeschritten, dass viele Christen sogenannte Mozaraber nur noch Arabisch sprachen und schrieben, sich einige einen Harem hielten und andere beschneiden ließen. Die Unkenntnis des Lateinischen, der Sprache der Kirche, war so weit fortgeschritten, dass der Erzbischof von Sevilla, die Bibel ins Arabische übersetzen ließ, damit sie die Christen lesen konnten. Alvarus Paulus von Cordoba, Wortführer einer kleinen Gruppe extremistischer Christen, beobachtete voller Trauer:

Meine Glaubensbrüder lesen mit Vorliebe die Gedichte und Romane der Araber, sie studieren die Schriften der muslimischen Theologen und Philosophen, nicht um sie zu widerlegen, sondern um sich eine richtige und elegante arabische Sprechweise anzueignen. Wo soll man heute noch einen Laien finden, der die lateinischen Kommentare zu den heiligen Schriften liest? Wer von ihnen studiert die Evangelien, die Propheten, die Apostel? Ach alle die jungen Christen, die sich durch ihre Talente auszeichnen, kennen nur noch die arabische Sprache und Literatur; sie lesen und studieren mit der größten Hingabe die arabischen Bücher, sie legen sich unter hohen Kosten große Büchersammlungen an… Erzählt ihr ihnen dagegen von christlichen Büchern: Sie werden euch voller Verachtung antworten, derlei Bücher seien ihrer Aufmerksamkeit unwürdig.Welch Schmerz! Die Christen haben sogar ihre Sprache vergessen. Und unter tausend von ihnen werdet ihr mit Mühe nur einen Einzigen finden, der seinem Freund einen Brief in anständigem Latein schreiben kann …

Die meisten Christen bemühten sich damals, alles zu unterlassen, was dem theologischen System des Islams widersprach. Das heißt, man vermied es beispielsweise, die für die Muslime unannehmbare Lehre von der Gottheit Christi in irgendeiner Weise zur Sprache zu bringen oder das Kreuzzeichen zu zeigen.

Angesichts ihrer schwindenden Herde, angesichts eines von arabischen Kultur und arabischen Sitten verdrängten christlichen und römischen Erbes, riefen die Bischöfe häufig ihre Schäfchen zur Wachsamkeit gegenüber einem Glauben und einer Moral auf, die sie als vom Satan inspiriert ansahen. Ihr Zorn war so groß wie ihre Unkenntnis des Islams. Immer wieder predigten sie die im volkstümlichen christlichen Milieu kolportierten Schauermärchen über Mohammed und den Islam, ohne sich die Mühe zu machen, Quellen heranzuziehen, die ja in greifbarer Nähe lagen.

Die freiwilligen Märtyrer

„Dieser Feind unseres Erlösers“, sagt Alvarus über Mohammed, hat den sechsten Tag der Woche dem Fleisch und Ausschweifung geweiht …Christus hat die Ehe gepredigt, jener die Ehescheidung: Christus hat Enthaltsamkeit und Fasten empfohlen, jener Völlerei und Tafelfreuden …“ und so weiter. Solche Polemik hatte das Ziel die Christen gegen die Muslime anzustacheln. Unter dem Einfluss des Predigers Eulogius von Cordoba und seines Freundes, dem Laien Alvarus, beschimpften diese fanatischen Christen bereitwillig den Propheten Mohammed und den Islam, drangen lärmend in die Moscheen ein, nur um angezeigt, ergriffen und zu Tode gefoltert zu werden.

Die sich willig dem Martyrium hingeben, werden in die Herrlichkeit der Erwählten eingehen“,

wird Eulogius nicht müde zu wiederholen.

Eine wahre Märtyrerepidemie verbreitete sich unter einer kleinen Minderheit von fanatischen Christen. Aufgehetzt von Männern wie Eulogius gingen viele so weit, Muslime anzugreifen, in den Straßen Schmähungen gegen Mohammed auszustoßen. Enthauptungen und Strangulierungen folgten einander einige wurden vom Emir selbst befohlen, der dem freiwilligen Märtyrertum ein Ende setzen wollte. Es schien ihm die beste Methode zur Wiederherstellung der Ordnung zu sein, ein Konzil einzuberufen und ein Dekret anzufertigen, nachdem den Christen verboten sei, vorsätzlich das Martyrium zu suchen. Rekafred, der Bischof von Sevilla, führte den Vorsitz bei diesem Konzil. Es war vergebliche Mühe. Die Ausschreitungen nahmen zu. Die Festnahmen und Exekutionen wurden wieder aufgenommen. Mehrere Hundert Christen starben und die Proteste dauerten noch lange an, bis zum Tode Abd-ar Rahmans im Jahre 852. Als Eulogius, der inzwischen Erzbischof von Sevilla geworden war, erneut die Christen mit der Predigt des freiwilligen Märtyrertums aufwiegelte, ließ ihn Mohammed I., der Sohn und Nachfolger Abd –ar Rahmans und Anhänger einer harten Linie, ergreifen und töten. Nach der Exekution lichteten sich die Reihen der freiwilligen Märtyrer und es kehrte wieder Ruhe ein.

Die theologische Begründung des freiwilligen Märtyrertums

In seiner Streitschrift Indiculus Luminosus verglich Alvarus die Situation der Christen im maurisch besetzten Spanien mit der von Jesus und seinen Jüngern im römisch besetzten Palästina. Für die Apostel war das Predigen des Evangeliums mit Gefahr verbunden gewesen sogar Lebensgefahr. Er erläuterte am Beispiel Jesu und der Apostel, dass wahres Christentum ohne öffentliche Kritik an der falschen Lehre nicht denkbar ist. Denn nach Alvarus ist die Ablehnung des Falschen eine notwendige Folge der Erlösung durch Christus.

Die offene Polemik gegen das Falsche sei somit ein Bestandteil der christlichen Verkündigung. Dabei sei die öffentliche Verbreitung des Evangeliums nicht nur ein Teil der Heilsgeschichte, sie sei auch eine wichtige Voraussetzung für die Vollendung des Weltplans Gottes. Unter Berufung auf Mt 26,13 betont Alvarus, dass der Vollendung der Weltgeschichte die weltweite Evangeliumspredigt vorausgehen müsse. Die Märtyrer setzen nach Alvarus das Werk der Apostel an den Muslimen fort, da diesen das Evangelium noch nicht gepredigt worden sei. Die Märtyrer seien somit die Apostel der Muslime.

Gibt es einen Christentumismus?

Der Islamismus ist eine Ideologie, die auf Grundlage des Islams die Errichtung einer allein religiös legitimierten Gesellschafts- und Staatsordnung anstrebt. Damit einher geht die Ablehnung der Prinzipien von Individualität, Menschenrechten, Pluralismus, Säkularität und Volkssouveränität. Bei Islamismus denken viele nur an Terror und Gewalt. Dabei gibt es auch die sogenannten legalistischen Islamisten, die keine Gewalt einsetzen bei der Verfolgung ihrer Ziele. Eines dieser Ziele könnte z.B. die Etablierung der Scharia in der staatlichen Rechtsprechung sein.

Der Zionismus ist eine Ideologie, die das Ziel hat einen jüdischen Nationalstaat in Palästina zu errichten. Ultra-orthodoxe Juden sehen in den Zionisten abtrünnige Ketzer, die sich gegen das von Gott verfügte jüdische Exil auflehnen und sich selbst erlösen wollen, statt demütig auf die Ankunft des Messias zu warten.

Gibt es in Anlehnung an die Begriffe Islamismus und Zionismus einen Christentumismus? Nein - nicht als etablierten politikwissenschaftlichen Begriff oder als Medienbegriff.(Google spuckt weniger als 90 Ergebnisse aus.) Wäre es so, dann müsste man die Taiping, die 1850 in China den Aufstand probten, als Christentumisten bezeichnen ebenso die erzkonservativen Calvinisten im niederländische Urk der Gegenwart. (In den Niederlanden bauten die Calvinisten seit dem 18. Jahrhundert das Wohnzimmer zur Straßenseite und verboten Gardinen vor den Fenstern, denn der rechtschaffene Protestant hat nichts zu verbergen.) Was ist mit Gruppen wie z.B. Die Zeugen Jehovas? Sie sprechen vom kommenden "Reich Gottes auf Erden" beinhaltet das automatisch einen Gottesstaat?

Christentumisten gibt es der Idee nach und man nennt sie "fundamentale Christen". Dass sich Christentumisten als Synonym nie etablieren wird, liegt hauptsächlich daran, dass es im Gegensatz zu "Islamisten" und "Hinduisten" schwer auszusprechen ist.

Aber ist das das einzige Problem? Vielleicht ist es auch so, dass man diesbezüglich im christlich geprägten Kulturraum gerne ein Auge zudrückt. Der Begriff "fundamentale Christen" suggeriert (beabsichtigt oder unbeabsichtigt) Harmlosigkeit. Von einer Religion - hier das Christentum - geht allgemein keine Gefahr aus - von Ideologien ("Ismen") schon. "Das sind Christen (Anhänger einer Religion), die ein bisschen komisch sind. Die wollen nur spielen ...Das sind keine Ideologen." Als harmlos deshalb wahrgenommen, weil von Ihnen kaum Terroranschläge bekannt sind.

Humane embryonale Stammzellen aus unbefruchteten Eizellen – Ein Ausweg?

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Bei der Zellersatztherapie differenzieren Wissenschaftler Stammzellen in bestimmte Zelltypen, um alte kranke Zellen durch neue gesunde zu ersetzen. Viele Neurologen träumen davon mit diesem Ansatz die Parkinson-Krankheit zu heilen: Neue gesunde, im Labor hergestellte, Nervenzellen nehmen den Platz der geschädigten Dopamin produzierenden Nervenzellen in der Pars compacta der Substantia nigra des Patienten ein.

Embryonale Stammzellen eignen sich am besten für die Zellersatztherapie, weil sie pluripotent sind: Sie lassen sich zu jeglichem Zelltyp eines Organismus differenzieren und entwickeln zahlreiche Gewebe.

(A) Humane embryonale Stammzellen; (B) Nervenzellen, die aus humanen embryonalen Stammzellen hergestellt wurden

(A) Humane embryonale Stammzellen; (B) Nervenzellen, die aus humanen embryonalen Stammzellen hergestellt wurden

Das Embryonenschutzgesetz

Embryonale Stammzellen gewinnt man aus einem – Du hast richtig geraten – Embryo und damit sind wir beim ersten und ethisch wichtigsten Problem der Zellersatztherapie. Der deutsche Gesetzgeber sieht die Zellen des Embryos als besonders schützenswert an, weil sich aus Ihnen später ein Mensch entwickelt. Das Embryonenschutzgesetz hat zum Ziel, das menschliche Leben von seinem Beginn an zu schützen.

In § 8 wird definiert, dass als Embryo im Sinne des Gesetzes bereits die befruchtete, entwicklungsfähige Eizelle angesehen wird. Entwicklungsfähig ist eine Eizelle innerhalb von 24 Stunden nach der Kernverschmelzung (§ 8 Abs. 1). Außerdem gilt jede Zelle, die man einem Embryo entnimmt, selber als Embryo, wenn sie sich selbst zu einem vollständigen Individuum entwickeln könnte (Totipotenz). Ob das auf humane embryonale Stammzellen zutrifft ist wissenschaftlich umstritten und lässt sich aus ethischen Gründen auch schlecht feststellen. Hübner et al. [1] zeigten, dass embryonale Stammzellen der Maus sich in vitro nicht nur zu Körperzellen sondern auch zu Eizellen und extraembryonalen Zellen entwickeln können. Toyooka Y et al. [2] zeigten, dass sich embryonale Stammzellen der Maus in vitro auch zu Spermienvorstufen differenzieren können, die nach Transplantation in den Hoden zu Spermien heranreifen.

In § 2 geht es um die missbräuchliche Verwendung des menschlichen Embryos. So wird die Weiterbehandlung eines Embryos außerhalb des Mutterleibs nur erlaubt, wenn der Embryo anschließend der Mutter eingepflanzt wird (§ 2 Abs. 2).

Cruz Villalón, Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), definiert jedoch einschränkend das "eine Eizelle, die ohne Befruchtung zur Weiterentwicklung angeregt worden ist" und die "nicht fähig ist, sich zu einem Menschen zu entwickeln, nicht als menschlicher Embryo angesehen werden kann".

Er zeigte damit einen Weg auf wie diese ethische und rechtliche Hürde der embryonalen Stammzellgewinnung umgangen werden kann. Um diesen Weg zu verstehen müssen wir uns mit Parthenogenese beschäftigen.

Parthenogenese von humanen Eizellen

Bei der Parthenogenese werden Eizellen ohne Befruchtung, also unabhängig vom Spermien aktiviert. Man nennt diese Eizellen Parthenote. Parthenote teilen sich und bilden einen neuen Organismus. Wirbellose Tierarten wie Bienen, Rädertiere, Wasserflöhe, Schlupfwespen und Blattläuse bedienen sich gelegentlich dieser eingeschlechtlichen Fortpflanzungsform.

Parthenote von Säugetieren sind nicht lebensfähig. Eizellen von Mäusen oder Kaninchen, die durch chemische Reize angeregt wurden, sich zu teilen, unterscheiden sich in den ersten Entwicklungstagen nicht von befruchteten Eizellen. Sie enthalten auch pluripotente embryonale Stammzellen, stoppen aber in der Entwicklung und sterben nach etwa 10 Tagen ab [3-6]. Embryologen führen den Tod darauf zurück, dass das paternale Imprinting der Gene (unter anderem Methylierungsmuster) in der Zygote offenbar eine Bedeutung für die Entwicklung hat, die bisher nur unvollkommen verstanden ist.

2004 aktivierten Nina Rogers vom University College London und ihre Kollegen von der Cardiff University humane Eizellen parthenogenetisch, indem sie die RNA des Spermienproteins Phospholipase Czeta in die Zellen injizierten [7]. Einige der Zellen teilten sich bis zum Blastozystenstadium. Bislang ist es aber noch nicht gelungen, die innere Zellmasse der Blastozysten weiter zu kultivieren und daraus embryonale Stammzellen gewinnen.

Wenn das gelingt, wäre folgendes denkbar: Frauen mit chronischen Erkrankungen, wie z. B. Typ-1-Diabetes, werden Eizellen entnommen um daraus immuntolerante insulinproduzierende Betazellen der Langerhansschen Inseln der Bauchspeicheldrüse herzustellen. Rechtlich könnte dann ein solcher Vorgang mit einer Eigenblutspende vor einer Operation oder der Gewinnung von Blutstammzellen aus dem Knochenmark verglichen werden.

Weiterführende Literatur

What are stem cells? - An short educational film by the Irish Stem Cell Foundation

Creation of human embryonic stem cell lines

Human embryonic stem cell-derived retinal pigment epithelium in patients with age-related macular degeneration and Stargardt's macular dystrophy: follow-up of two open-label phase 1/2 studies

First embryonic stem cell therapy safety trial in Asian patients

1. Hübner K, Fuhrmann G, Christenson LK, Kehler J, Reinbold R, De La Fuente R, Wood J, Strauss III JF, Boiani M, Schöler HR (2003) Derivation of oocytes from mouse embryonic stem cells. Science, 300, 1251–1256.

2. Toyooka Y, Tsunekawa N, Akasu R, Noce T (2003) Embryonic stem cells can form germ cells in vitro. USA: Proc Natl Acad Sci, 100, 11457–11462.

3. Surani MA , Barton SC (1983) Development of gynogenetic eggs in the mouse: implications for parthenogenetic embryos. Science, 222,  4627, 1034-1036.

4. Surani MA, Barton SC, Norris ML (1984) Development of reconstituted mouse eggs suggests imprinting of the genome during gametogenesis. Nature, 308, 5959, 548-550.

5. Surani MA, Kothary R, Allen ND, Singh PB, Fundele R, Ferguson-Smith AC, Barton SC (1990) Genome imprinting and development in the mouse. Dev Suppl, 89-98.

6. McGrath J, Solter D (1984) Completion of mouse embryogenesis requires both the maternal and paternal genomes. Cell, 37, 1, 179-183.

7. Rogers NT, Hobson E, Pickering S, Lai FA, Braude P, Swann K (2004) Phospholipase Czeta causes Ca2+ oscillations and parthenogenetic activation of human oocytes. Reproduction. 128, 6, 697-702.

Bildnachweis

Beschreibung: (A) Humane embryonale Stammzellen (hESCs); (B) Nervenzellen, die aus humanen embryonalen Stammzellen hergestellt wurden

Urheber: Nissim Benvenisty

Datum der Veröffentlichung: 12.7.2005

Quelle: Russo E. (2005) Follow the Money—The Politics of Embryonic Stem Cell Research. PLoS Biol 3(7): e234. doi:10.1371/journal.pbio.0030234

Lizenz: This file is licensed under the Creative Commons Attribution 2.5 Generic license.

 

Der bürgerliche Lebensstil als kulturimperialistisches Instrument im Belgisch-Kongo

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Zur Zeit der belgischen Kolonialherrschaft im Kongo lebten die Belgier dort in abgeschotteten Wohnvierteln und genossen die Privilegien ihrer bürgerlichen Lebensweise. Diese kleine Elite von Kaufleuten, Beamten, Lehrern, Ärzten, Ingenieuren legte Wert auf Bildung, die Familie und die Kultivierung ihrer Privatsphäre. Sie beeinflusste nahezu alle Bereiche des öffentlichen Lebens nach ihren Vorstellungen und konnten demzufolge, nach Max Webers Definition von Macht, als die herrschende Klasse im Kongo bezeichnet werden. 

Die belgische Bürgerkultur und die Évolués

Bürgerliche Kultur beschrieb den einzig wahren Lebensstil, die einzig legitime Weltsicht, weil sie den Anspruch erhob, Bürgerkultur zu sein. Diesem Anspruch widersprach sie gleichzeitig durch eine, an Habitus und Ethos gebundene Verbindlichkeit. Konnte man den bürgerlichen Habitus mit all seinen Symbolformen nicht aufweisen oder stellte man ihn partiell in Frage, war man vom modernen Gesellschaftleben ausgeschlossen.

An der beliebten Salon- und Festkultur beispielsweise konnte nur teilnehmen, wer ein bestimmtes Erscheinungsbild, im Bezug auf Kleidung, Frisur und Körperhaltung besaß, sich gewählt auszudrücken und Gespräche über gesellschaftlich relevante Themen zu führen wusste. Der Besuch von Kultur- und Bildungseinrichtungen, Museen und Kunstwerkstätten oder auch der regelmäßige Diskurs über Politik, Wissenschaft und Philosophie in Lesegesellschaften und Vereinen setzte eine gewisse Allgemeinbildung voraus, die nur eine Minderheit der Gesellschaft von Haus aus mitbrachte. Diese öffentlichen Umgangsformen wirkten einerseits identitätsstiftend nach Innen und andererseits sozial ausgrenzend nach Außen, denn „[w]er die kulturellen Regeln nicht beherrschte,wird [sic] durch sie ausgeschlossen.“

Wider aller wertebezogener Ziele, eine Kultur für Jedermann zu schaffen, funktionierte die soziale Praxis des Bürgertums distinktiv, „um ein gewisses Maß an bürgerliche Exklusivität zu erhalten“ und  vereinheitlichend,  um  als  Gruppierung  überhaupt  zu  existieren. Die  Klassifizierung Bürgertum geschieht also auf Grund der ähnlichen Verhaltensmuster,der bürgerlichen Kultur, und ihrer Abgrenzung zu anderen Gruppen.

So beschreibt Katharina Thielen in ihrem Fachartikel [1] die Kultur des deutschen Bildungsbürgertums im 19. Jahrhundert. Was sie dort beschreibt, galt jedoch genauso für die Kultur des belgischen Exilbürgertums im Kongo: Sie war ihren Werten nach allumfassend in der Praxis jedoch sozial ausgrenzend - und das bekam besonders die kleine Schicht der gebildeten Kongolesen zu spüren:

Ihnen wurden begrenzte Privilegien in Aussicht gestellt, z. B. der Besuch öffentlicher Einrichtungen, Spazierengehen nach Einbruch der Dunkelheit, Kauf alkoholischer Getränke, bessere Behandlung in Krankenhäusern, Zugang zu Kabinen auf Schiffen. Voraussetzungen waren ein bestimmtes Bildungsniveau, die Zugehörigkeit zum Christentum und der Erwerb des offiziellen Titels Évolué (Zivilisierter) [2]. Dafür mussten die Bewerber sich einem aufwendigen und erniedrigenden Eignungstest unterziehen, der darin bestand, dass sie bei unangemeldeten Hausbesuchen auf unterschiedlichste Attribute und Verhaltensweisen hin überprüft wurden: Monogamie, Sauberkeit im Haus, Kurzhaarfrisur, Tragen gebügelter Kleidung, Unterhose und polierte Schuhe. Essen mit Besteck und am Tisch und schließlich: immer ein Taschentuch dabeihaben.

Auf die Kontrolle der bürgerlichen Lebensführung folgte eine Abschlussprüfung, bei der man die Gesinnung des Bewerbers unter die Lupe nahm. Als Lumumba, der erste Premierminister des unabhängigen Kongo, sich 1953 zu dieser sogenannten „Immatrikulation“ meldet, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können, wird er nach seiner Lektüre gefragt. Seine Angaben – Bücher zur Politik, Geschichte und den französischen Kolonien in Afrika – erscheinen verdächtig, und er besteht die Prüfung erst im zweiten Anlauf.

Lumumba erkennt die perfide Strategie der Entfremdung, die Bevölkerung in „Eingeborene“ und „Évolués“, zu spalten, die vor allem als Puffer zwischen der Bevölkerung und den Besatzern dienen sollen, und analysiert sie in seinen Schriften. Er fordert die Kongolesen auf, die Werte der afrikanischen Kultur zu bewahren und mit den brauchbaren Elementen der europäischen Kultur zu verbinden.

Mobutus kulturelles Programm der Authenticité

Nous sommes â la recherche de notre authenticité

Joseph-Desiré Mobutu, Februar 1971

Im Oktober 1970 lässt der kongolesische Diktator Joseph-Desiré Mobutu das Land in Republik von Zaire umbenennen. Im Februar 1971 greift er Lumumbas Idee auf und entwickelt das mit dem Begriff Authenticité umschriebene kulturelle Programm der nationalen Integration, das später auch als Mobutuismus bezeichnet wurde [3].

Der Kongo habe seine Seele und seine Würde verloren, so Mobutu, er müsse sie wieder entdecken und wieder beleben. Das Bewusstsein für eigene Leistungen in Kultur und Gesellschaft gelte es wieder wachzurufen. Kongolesische Traditionen, Nähe zur Natur, Bindung an die Gemeinschaft, gegenseitige Hilfe, Achtung von Älteren und Ahnen wurden dabei betont. Die Werte der Vorfahren sollten als Quelle der eigenen Erneuerung und Entwicklung dienen. Authenticité war demnach die Überwindung kolonial induzierter Entfremdung, die Besinnung auf die eigene Persönlichkeit und Identität. Mobutu beauftragte seinen Berater Sakombi Inongo die Ideen der Authenticité durch Reden und Bücher ins Volk zu tragen.

Als äußeres Zeichen der Abkehr von ihrer kolonialen Vergangenheit war es den Kongolesen von nun an verboten europäische Anzüge und Krawatten zu tragen. Mobutu schrieb den Männern vor den kurzärmeligen Abacost, eine Abkürzung für die französische Forderung "à bas le costume" (wörtlich "Runter mit dem Anzug"), zu tragen. Der Abacost ähnelte sehr dem chinesischen Mao-Anzug. Im Februar 1972 wurden alle christlichen Vornamen afrikanisiert.

Ab Mitte der 70er erlahmte die Authenticité, unter anderem, da der betriebene Personenkult um Mobutu nicht den gewünschten Erfolg beim Volk zeigte. Mit dem beginnenden Machtverlust Mobutus ab 1990 wurden neben dem Abacost auch Anzüge und Krawatten nach westlichem Vorbild wieder offiziell zugelassen.

Weiterführende Literatur

[1] Katharina Thielen, (2011), Die Macht des Bürgertums im 19. Jahrhundert – Auswirkungen des bürgerlichen Wertesystems auf die Gesellschaft, Skriptum 1, Nr. 2, S. 66-85

[2] Joséphine T. Mulumba, (2014), PATRICE ĖMĖRY LUMUMBA - Eine Kongolesische Tragödie, In “Visionäre Afrikas“ S. 287 -293, Peter Hammer Verlag

[3] Dietmar Rieger (Herausgeber), Stephanie Wodianka (Herausgeber), Klaudia Knabel (Herausgeber), (2005), Nationale Mythen - kollektive Symbole (Formen der Erinnerung) Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht; Auflage: 1., Aufl.

Aimé Césaire, (1966), IM KONGO, Ein Stück über Patrice Lumumba, Verlag Klaus Wagenbach Berlin


Nach welchen Kriterien gruppieren Viertklässler Tiere?

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Die meisten Erwachsenen zählen Spinnen, Tausendfüßer und Kellerasseln zu den Insekten: Schließlich sind sie klein, haben mehr als vier Beine und krabbeln. Wenn wir uns in Haus und Garten umschauen liegen wir mit den drei hier verwendeten Kriterien der Größe, Beinzahl und Fortbewegung meistens richtig - aber nicht in diesem Fall. Knapp daneben aber daneben.
Erwachsene haben gegenüber Grundschülern den Vorteil, dass sie durch den Biologieunterricht der weiterführenden Schulen ein bruchstückhaftes Wissen über die Kriterien der natürlichen Systematik haben. Grundschüler hingegen müssen sich ihre Kriterien selbst ausdenken und eine individuelle künstliche Systematik schaffen. Welche Kriterien sie für diese Systematik nutzen haben Kattmann et al. [1] bei Viertklässlern in Niedersachsen untersucht (N = 83, Jungen und Mädchen etwas zur Hälfte vertreten).

Der Fragebogen zum Einordnen der Tiere in Gruppen

Die Biologiedidaktiker erhoben die Schülervorstellungen mit einem Fragebogen, der aus drei Aufgaben bestand.

Aufgabe 1: Freies Bilden und Benennen von Tiergruppen

Es sind 25 Tiernamen vorgegeben. Es werden keine Artnamen, sondern umgangssprachliche Tiernamen verwendet. Voruntersuchungen zeigten, dass die ausgewählten Tiere auch bei den Schülern sehr bekannt sind. Die Tiere sind in Gruppen zu ordnen, für die gebildeten Gruppen sollen die Schüler treffende Namen finden. Um die Schüler nicht zum Einordnen einzelner Tiere zu zwingen, ist auch die Kategorie „Einzelgänger“ vorgesehen. Der Fragebogen ist nicht durch Tierbilder illustriert, damit zufällige Ähnlichkeiten die Ergebnisse nicht beeinflussen.

Aufgabe 2: Aussondern aus einer Tiergruppe

Aus einer vorgegebenen Gruppe von 5 Tieren ist eines auszusondern, das nach Meinung des Schülers nicht zur Gruppe dazugehört. Zusätzlich muss der Schüler die Wahl des nicht zugehörigen Tieres begründen. Die Tiergruppen sind so zusammengestellt, dass die Schüler jeweils ein taxonomisch nicht passendes Tier aussondern können. Außerdem ist jeweils ein taxonomisch zugehöriges Tier enthalten, das in Größe, Fortbewegung oder Lebensraum von den anderen abweicht.

Aufgabe 3: Zuordnen zu einer Tiergruppe

Zu einer Gruppe von drei bis vier Tieren soll eins von zwei Tieren zugeordnet werden. Wiederum müssen die Schüler die Zuordnung begründen.

Abbildung 1: Beispiele für die drei Aufgaben des Fragebogens

Abbildung 1: Beispiele für die drei Aufgaben des Fragebogens

 

Ergebnisse der Aufgabe 1: Die von den Schülern verwendeten Kriterien zur Einordnung der Tiere in Gruppen

Die ausgewählten Kriterien lassen sich anhand der Gruppennamen und der ausgewählten Tiere folgendermaßen zusammenfassen:

Lebensraum (Wasser-, Meeres-, Seetiere; Land-, Luft-, Wald-, Wüsten-, Steppentiere)
Beziehung zum Menschen (Haustiere, Heimtiere, Bauernhoftiere, wilde Tiere)
Fortbewegung (fliegende Tiere, kriechende Tiere, krabbelnde, laufende, schwimmende, hüpfende Tiere)
Körperbau (Zweibeiner, Vierbeiner, auch Nullbeiner, Flügeltiere, Felltiere, weiche Tiere, Weichtiere)
Größe (große Tiere, kleine Tiere)
Ernährung (Fleisch-, Pflanzenfresser)
Fortpflanzung (Eierleger, lebendgebärende Tiere)
Taxonomie (Insekten, Säugetiere, Vögel, Fische, Reptilien, Amphibien, Wirbeltiere, Wirbellose, Nagetiere)
Sonstiges (gefährliche, schöne, eklige, glitschige, exotische Tiere)

Die Schüler verwenden durchschnittlich etwa drei der aufgelisteten Kriterien nebeneinander.

Die Schüler benutzten das Kriterium Lebensraum am häufigsten: 86.7 % der SchülerInnen bilden die Gruppe „Wassertiere“ (einschließlich Meeres- und Seetiere) aber nur 15.7 % die Gruppe „Landtiere“.

69.9 % bildeten die Gruppe „fliegende Tiere“ und 48.2 % die Gruppe „kriechende (oder krabbelnde)" Tiere. 10.8 % bildeten die Gruppe „schnelle und langsame Tiere“. Das zeigt die große Bedeutung des Kriteriums Fortbewegung.

Ebenfalls eine große Rolle spielt der Körperbau, wobei die Anzahl der Beine als hauptsächliches Kriterium dient. 65.1 % benutzten dieses Kriterium. Beine haben auch einen Bezug zum Kriterium Fortbewegung.

Von den taxonomischen Gruppen bildeten die Schüler am häufigsten die Insekten (27.7 %). Allerdings umfasst die so benannte Gruppe in der Regel auch Krebs, Spinne und weitere Wirbellose. Alle anderen taxonomischen Gruppen wurden mit weniger als 5 % zu Gruppenbildung herangezogen: Vögel 4.8 %, Säugetiere 1.2 %, Reptilien 1.2 %. Die Schüler bilden auch Gruppen, denen sie zwar taxonomische Namen geben, die aber nach nicht-taxonomischen Kriterien gebildet sind. Es handelt sich um die Gruppen der „Kriechtiere“ und der „Weichtiere“, die an dem Kriterium „Kriechen“ bzw. „weicher Körper“ orientiert sind.
16.9 % bildeten die Gruppe „Haustiere“ und „Heimtiere“. Hier wurde das Kriterium des Lebensraums mit der Beziehung zum Menschen vereint.

Abbildung 2: Häufigkeit der von Schülern der 4. Klasse gebildeten Tiergruppen

Abbildung 2: Häufigkeit der von Schülern der 4. Klasse gebildeten Tiergruppen

 

Ergebnisse der Aufgaben 2 und 3: Aussondern und Zuordnen von Tieren

Zu 63–97 % (Mittel 83 %) haben die Schüler das Tier ausgesondert das entweder taxonomisch nicht passt oder das zwar taxonomisch passt aber in Größe, Fortbewegung oder Lebensraum von den anderen abweicht. Die Schüler begründen, dass Aussondern des taxonomisch nicht passend Tiers häufig mit nicht-taxonomischen Kriterien. Die Didaktiker erwarteten dies, da die Schüler die taxonomischen Kriterien kaum kennen. Auswahl und Begründung sind also inkonsistent. Damit ist nicht gemeint, dass die gegebene Begründung (im biologischen Sinne) falsch ist, sondern dass die taxonomische Aussonderung in diesen Fällen mit einem anderen Kriterium (z. B. Fortbewegung) begründet wird.

Ein Beispiel: In der folgenden Aufgabe sind jeweils 5 Tiere genannt. Nur vier davon gehören zusammen. Welches Tier gehört nicht zu der Gruppe?

Pferd, Kaninchen, Schwein, Huhn, Kamel.

Das Huhn wird ausgesondert (Taxonomische Aussonderung).

Taxonomische Begründung (konsistent): Das Huhn ist ein Vogel. Die anderen Tiere gehören zur Klasse der Säugetiere.
Nicht-taxonomische Begründung (inkonsistent): Das Huhn hat zwei Beine.

Noch stärker als beim Aussondern orientieren sich die Schüler beim Zuordnen an nicht-taxonomischen Kriterien. Die Kriterien Lebensraum und Fortbewegungsweise werden am häufigsten benutzt.

Viertklässler ordnen Tiere hauptsächlich aufgrund des Lebensraums und der Fortbewegung. Das Ordnen erfolgt nicht typologisch, also weder nach einem Set übereinstimmender Merkmale, noch nach äußeren Ähnlichkeiten oder Prototypen.

Wir wissen jetzt wo wir die Schüler beim Eintritt in die weiterführenden Schulen abholen können. Doch wohin sollen wir sie in den folgenden Schuljahren führen? Werfen wir einen Blick in das Kerncurriculum des Niedersächsischen Kultusministerium für Naturwissenschaften für die Schuljahrgänge 5 -10 der Realschule.

Erwartete Kompetenzen in der tierischen Systematik am Beispiel der Realschule in Niedersachsen

Das Kerncurriculum fordert am Ende des 6. Schuljahrs im Fach Biologie zu den beiden Verfahren der Erkenntnisgewinnung „Beobachten“ und „Vergleichen und Analysieren“ folgendes:

Verfahren „Beobachten“

Die Schülerinnen und Schüler …
• beobachten Naturobjekte nach wenigen ausgewählten Kriterien.
• beschreiben Gestaltmerkmale und Verhaltensweisen von Lebewesen.

Verfahren „Vergleichen und Analysieren“

Die Schülerinnen und Schüler …
• vergleichen Lebewesen mit Abbildungen.
• entwickeln eigene Ordnungssysteme und kennen wissenschaftliche Ordnungssysteme in Ansätzen.

Am Ende der 10. Klasse fordert es:

Die Schülerinnen und Schüler …
• vergleichen Baupläne, Entwicklungsabläufe und Lebensweisen im Hinblick auf die stammesgeschichtliche Entwicklung und umweltabhängige Anpassung.

Anwendung der Forschungsergebnisse im Systematikunterricht

Wie kann man die Orientierung der Schüler an Lebensräumen und Fortbewegung sinnvoll für den Unterricht der biologischen Taxonomie nutzen? Ulrich Kattmann und seine Mitstreiter haben sich dazu Gedanken gemacht und schlagen für den Systematikunterricht vor sich an der Evolutionsökologie zu orientieren [2, 3]. Deshalb werden z. B. die Wirbeltiergruppen nicht primär anhand körperlicher Merkmale besprochen, sondern aufgrund ihrer Geschichte, d. h. der Besiedlung des Landes vom Wasser her. Die Schüler sollen die Gruppen mit diesem Vorgehen als Abstammungsgemeinschaften begreifen. Äußere Merkmale sind nur Hilfskriterien bei der Rekonstruktion der stammesgeschichtlichen Verwandtschaft. Hier muss man natürlich bei Homologie und Analogie aufpassen.

Eine Möglichkeit besteht darin, dass der Lehrer mit den Fischen beginnt, die (immer noch) im Wasser leben. Das hat folgende Vorteile: Fische sind den Schülern als Nahrungsmittel bekannt und mancher Schüler hält zuhause Fische im Aquarium. Viele Schüler haben bereits das Innere eines Fisches gesehen, weil sie beobachtet haben wie ein Fisch in der Küche zubereitet wurde. Nachteil (aus der Sicht des Evolutionsbiologen): Die Klasse der Fische beschreibt keine in sich geschlossene Klasse (paraphyletisch), wie es bei den Säugetieren, Vögeln, Amphibien oder Reptilien der Fall ist (monophyletisch), sondern fasst eine Gruppe von morphologisch ähnlichen Tieren zusammen. Der Lehrer sollte klar machen, wie sich Schwimmen beim Menschen und Schwimmen bei Fischen unterscheiden. Danach könnte der Lehrer die Amphibien (z. B. Frosch) und Reptilien (z. B. Eidechse oder Dinosaurier) besprechen. Die Frage ist natürlich was man den Schülern vor der 10. Klasse zumuten kann: es besteht die Gefahr die Schüler zu überfordern.

Interessant wäre es die Schüler im Vorfeld zu fragen seit wann es bestimmte Tiere (inklusive des Menschen) auf der Erde gibt. Ich bin gespannt auf die Antworten. Nach der christlich/jüdischen Schöpfungslehre, die zuhause, im Religionsunterricht und sehr viel früher als die Evolutionstheorie vermittelt wird, schuf Gott den Mensch und die Tiere innerhalb einer Woche. Mensch und Tiere sind daher ungefähr gleich alt.

Abbildung 3: Meister Bertram: Grabower Altar (1375–1383), Szene: Die Erschaffung der Tiere Auf der Tafel, die sich der Schöpfung der Tiere widmet, gibt Meister Bertram einen Überblick über die Fülle der Tierwelt, in einer Zeit, als der Mensch noch nicht auf Erden wandelt. Im Zentrum des auf Goldgrund gemalten Bildes waltet der Schöpfergott in Gestalt Jesu. Auf der linken Seite des Bildes befinden sich die Tiere des Landes, rechts unten die des Wassers und oben die Vögel.

Abbildung 3: Meister Bertram: Grabower Altar (1375–1383), Szene: Die Erschaffung der Tiere
Auf der Tafel, die sich der Schöpfung der Tiere widmet, gibt Meister Bertram einen Überblick über die Fülle der Tierwelt, in einer Zeit, als der Mensch noch nicht auf Erden wandelt. Im Zentrum des auf Goldgrund gemalten Bildes waltet der Schöpfergott in Gestalt Jesu. Auf der linken Seite des Bildes befinden sich die Tiere des Landes, rechts unten die des Wassers und oben die Vögel.

Wenn die Schüler dann im Biologieunterricht lernen, dass es Amphibien seit ungefähr 400 Millionen Jahren gibt und den modernen Menschen (homo sapiens sapiens) erst seit ungefähr 200 000 Jahren, ist Verwirrung vorprogrammiert. Der Mensch war also nicht von Anfang da, sondern ist erst relativ spät aufgetaucht. Da müssen sich sowohl Religionslehrer als auch Biologielehrer auf Nachfragen gefasst machen und wissen wie man damit umgeht. Das Lehrerkollegium muss sich dieser großen pädagogischen Herausforderung (Stichwort Kognitive Dissonanz) gemeinsam stellen – das ist bestimmt nicht einfach und erfordert Fingerspitzengefühl.

Der Lehrer sollte die Systematik der Tiere stammesgeschichtlich (phylogenetisch) aufbauen. Ähnlichkeit wird nicht als mit einer Schöpfung gegeben vorausgesetzt oder als nicht zu hinterfragendes Basis der Systematik akzeptiert, sondern sie muss durch Evolution gedeutet und erklärt werden. Warum dieses Konzept sehr wichtig ist möchte ich an einem Beispiel von Martin Jurgowiak & Jörg Zabel zeigen [4]: In einem Praktikum führten Lehramtsstudierende verschiedene Verhaltensexperimente mit wirbellosen Tieren, unter anderem der Kellerassel, durch. Am Ende der Versuche folgte ein Gespräch mit dem Praktikumsleiter:

Lehramtstudierende: „Das Ergebnis unserer Versuche lautet: Die Kellerassel sucht stets Feuchtigkeit.“
Praktikumsleiter: „Und warum zeigt sie dieses Verhalten?“
Lehramtstudierende: „Kellerasseln sind Kiemenatmer! Ohne Feuchtigkeit können sie nicht atmen.“
Praktikumsleiter: „Aber warum haben sie Kiemen, die sie feucht halten müssen?“
Lehramtstudierende: „Weil sie sonst nicht atmen könnten. Hätten sie Lungen, bräuchten sie die Feuchtigkeit nicht, aber sie haben Kiemen und können Sauerstoff nur aus dem Wasser aufnehmen.“

Bei der zweiten Frage zeigt sich, dass manchmal auch zukünftige Biologielehrer teleologisch im Sinne Lamarcks argumentieren und das Verhalten als zielgerichtetes adaptives Handeln missverstehen. Was machen dann erst die Schüler? Das liegt auch daran, dass der Praktikumsleiter bzgl. der Kiemen „Warum?“ (aktual-kausal) fragt und nicht „Wie kam es dazu?“ (historisch-kausal).

Theodosius Dobzhansky hatte recht: „Nichts in der Biologie macht Sinn außer im Licht der Evolution!“

Dieses Zitat ist auch der Titel eines Essays Dobzhanskys, das sich an Biologielehrer richtet. Dort betont er, dass Evolution und Gottesglauben vereinbar seien - und bekennt sich zu seinem christlichen Glauben. Wer mehr zu den Hintergründen dieses Zitats wissen will, dem empfehle ich die Blogposts des Religionswissenschaftlers Michael Blume und des Evolutionsbiologen Nils Cordes zu lesen.

Weiterführende Literatur

[1] Kattmann, Ulrich ; Schmitt, Annette. (1996). Elementares Ordnen: Wie Schüler Tiere klassifizieren. Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften, 2 (1996), 2, 21-38.

[2] Baumann, B., Harwardt, M., Schoppe, S., & Kattmann, U. (1996). Vom Wasser aufs Land – und zurück. Unterrichtsmodell für die Orientierungsstufe und die Sekundarstufe I. Unterricht Biologie, 20 (218), 20 -25.

[3] Kattmann, U. (1995): Konzeption eines naturgeschichtlichen Biologieunterrichts: Wie Evolution Sinn macht. Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften, 1 (1), S. 29-42.

[4] Jurgowiak, M. & Zabel, J.: Struktur und Funktion. Ein Konzept, das alles erfasst und nichts erklärt? Poster, 14. Frühjahrsschule der FDdB im VBIO, Bremen, 2012.

Nennt ihre Namen! #BloggerFuerFluechtlinge

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Amila, Asim, Dunya und Hamza sind angekommen. Endlich! Ich freue mich, dass sie hier sind. Nach mehreren Tausend Kilometern hat ihre strapaziöse und gefährliche Flucht aus Aleppo ein Ende – ein gutes, wenn wir es wollen und ein wenig von unserem Reichtum schenken. Ja, ich meine schenken: Denn Schenken soll Menschen verbinden.
Ich, Joe, schenke Dir, Hamza, einen Fußball.
Danke!
Wer ist dein Lieblingsspieler?
Messi!
Meiner ist Sterling von Manchester City…

Mit einem Geschenk zeige ich, dass ich an den Anderen gedacht haben. Ich gebe dem neuen Nachbarn das Gefühl hier willkommen zu sein. Ob er nur 3 Monate bleibt oder ein Leben lang spielt keine Rolle. Ich reduziere ihn nicht auf den Flüchtling, das Problem, denn Hamza bereichert mich sozial und kulturell und schenkt so auch mir etwas.

Also Kleidung, Schuhe, Spiel-, Bastel- und Schulmaterial, nicht einfach an der Sammelstelle abgeben, weil wir sie nicht mehr brauchen und den Keller entrümpeln wollen. Es ist so einfach „Das Zeug endlich loszuwerden“ und sich dabei gut zu fühlen. Noch besser wäre es allerdings, wenn auch Amila und Asim sich gut fühlen können.

Genau das, wollen die vielen wunderbaren Menschen, die sich an der Initiative „Moabit hilft“ beteiligen, erreichen.

Sie sammeln Sachspenden – vom Pullover über Hygieneartikel bis hin zur Bastelschere – und richteten in der Notunterkunft ein Spiel- und Lernzimmer für Kinder ein. Außerdem bieten sie kostenlose Deutschkurse sowie Strick- und Malgruppen für die Kreativen unter den Bewohner*innen an. Des Weiteren vermitteln sie über ihr Netzwerk Übersetzer*innen für Behördengänge etc.

Ich bitte Euch auf BloggerfuerFluechtlinge für die Gruppe „Moabit hilft!“ zu spenden.

1. Wenn du Blogger/in, Vlogger/in oder Podcaster/in bist, schreibe oder sprich zur Flüchtlingssituation. Sag warum es wichtig ist, dass wir uns alle um die Flüchtlinge kümmern und soziales Miteinander eine Selbstverständlichkeit ist.

Verweise auf diese Spendensammlung, die “Moabit hilft” zu Gute kommt.

2. Alle anderen: Nutzt Eure Netzwerke und verbreitet diesen Link um auf die Spendenaktion hinzuweisen. Nutzt den Hashtag #BloggerFuerFluechtlinge.

Was bisher nicht laut gesagt wird

Aus Syrien sind nach aktuellen Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) 4 Millionen Menschen geflohen. Die allermeisten von ihnen sind in die Nachbarstaaten Syriens geflüchtet, also Libanon, Jordanien, Irak und Türkei. Nur sechs Prozent der Flüchtlinge aus Syrien kommen nach Europa – und weniger als drei Prozent aller Geflüchteten verteilen sich am Ende auf Deutschland und Schweden.

Interessant ist auch, wie viele Flüchtlinge in einem Land bezogen auf die Einwohnerzahl dort Asyl beantragen. Hier liegt Schweden mit rund 8 Asylanträgen pro 1000 Einwohner weit vorne. Deutschland liegt mit 2 Asylanträgen pro 1000 Einwohner hinter Schweden, Ungarn, Malta, Dänemark, der Schweiz und Norwegen erst auf Platz 7.

Epilog

Ich war auch Flüchtlingskind. Meine Mutter floh vor dem blutigen Terrorregime Idi Amins aus Uganda nach Deutschland. Ich gehöre dem Volk der Acholi an und wurde in Bensberg geboren. Mein Großvater mütterlicherseits gab mir deshalb den Acholi-Mittelnamen „Otim“, was bedeutet: „Der in der Fremde geborene“. Bei den Acholi beschreibt der Name des Kindes oft die Lebensumstände, Probleme der Mutter zur Zeit der Geburt dieses Kindes. So erzählen die Namen der Kinder episodenartig die Lebensgeschichte ihrer Mutter. Sie dienen als Kapitelüberschriften dieser Geschichte. Ein Kapitel handelt von Flucht aber es nicht das letzte...

Weiterführende Links

Flucht aus Syrien: Ramis fünfmonatige Odyssee

Jetzt lernen Sie meine Oma kennen – und meine Meinung

Giovanni Girolamo Saccheri und die Kammer des Schreckens

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Die Geometrie ist ein sehr altes, mehrstöckiges Gedankengebäude: Im Erdgeschoss befindet sich die Planimetrie, die Eigenschaften von zweidimensionalen Grundformen wie Dreiecken, Vierecken und Kreisen untersucht. Hier stand Giovanni Girolamo Saccheri vor der Tür zur Kammer des Schreckens, öffnete sie, doch betrat die Kammer nicht, bestürzt von dem was er dort sah. Dies ist die Geschichte wie er zu dieser Tür gelangte......
Saccheri (* 5. September 1667 - † 25. Oktober 1733 in Mailand) war von 1699 bis 1733 Professor für Mathematik an der Universität in Pavia, Italien und versuchte einige Jahre vor seinem Tod das Parallelenaxiom des Euklids zu beweisen. Er beschrieb die Ergebnisse seiner Bemühungen in der Abhandlung "Euclides ab omni naevo vindicatus (Euklid befreit von jedem Makel) ", die jedoch von seinen mathematischen Zeitgenossen wenig beachtet wurde.

Abb.1: Die Titelseite von Saccheris Abhandlung über das Parallelenaxioms des Euklids

Abb.1: Die Titelseite von Saccheris Abhandlung über das Parallelenaxioms des Euklids

In den Elementen des Euklids (Elemente, Buch 1) findet sich das Parallelenaxiom als das fünfte Postulat:

„Gefordert soll sein: … dass, wenn eine gerade Linie [g] beim Schnitt mit zwei geraden Linien [h und k] bewirkt, dass innen auf derselben Seite entstehende Winkel [α und β] zusammen kleiner als zwei Rechte werden, dann die zwei geraden Linien [h und k] bei Verlängerung ins Unendliche sich treffen auf der Seite [von g], auf der die Winkel [α und β] liegen, die zusammen kleiner als zwei Rechte sind.“

Im Gegensatz zu den anderen vier Postulaten des Euklids ist dieses besonders lang und kompliziert. Deshalb wurde es schon im Altertum als Makel der euklidischen Axiomatik empfunden. Das Postulat besagt in moderner Formulierung, dass zwei parallele Geraden sich nie treffen.

Mathematiker wie Archimedes (3. Jahrhundert v. Chr.), Ptolemäus (2. Jahrhundert), Thabit ibn Qurra (9. Jahrhundert), Nasir Al-din al-Tusi (13. Jahrhundert) hatten versucht es aus den anderen Postulaten herzuleiten um damit zu zeigen, dass es für die Definition der euklidischen Geometrie entbehrlich ist. Saccheri war also nicht der Erste, der sich versuchte. Neu war jedoch seine Methode: Er wollte das Parallelenaxiom indirekt beweisen.

Ein Mathematiker zeigt bei einem indirekten Beweis (Widerspruchsbeweis), dass ein Widerspruch entsteht, wenn die zu beweisende Behauptung falsch wäre. Dazu nimmt er an, dass die Behauptung falsch ist, und wendet dann die gleichen Methoden wie beim direkten Beweis an. Wenn daraus ein Widerspruch entsteht, dann kann die Behauptung nicht falsch sein, also muss sie richtig sein (Satz vom ausgeschlossenen Dritten). Wichtige (und keinesfalls selbstverständliche!) Voraussetzung für die Gültigkeit eines Widerspruchsbeweises ist, dass im zugrunde liegenden Axiomensystem die Aussage nicht zugleich wahr und falsch sein kann (Widerspruchsfreiheit). Ein klassisches Beispiel eines Widerspruchsbeweises ist der euklidische Beweis dafür, dass es unendlich viele Primzahlen gibt.

Saccheri ging so vor, dass er eine geometrische Aussage suchte, die dem Parallelenaxiom gleichwertig aber einfacher und verständlicher formuliert ist. Er fand sie:

Die Innenwinkelsumme im Dreieck beträgt 180°.

Abb.2: Ein Dreieck mit den Innenwinkeln α, ß und ϒ.  Legt man durch C eine Parallele zu Strecke AB so sind α und α‘ sowie ß und ß‘ als Wechselwinkel gleich groß. Gemeinsam mit dem Winkel ϒ bilden  α‘und ß‘  einen 180° -Winkel. Die Summe der Innenwinkel α, ß und ϒ ist somit ebenfalls stets 180°.

Abb.2: Ein Dreieck mit den Innenwinkeln α, ß und ϒ. Legt man durch C eine Parallele zu Strecke AB so sind α und α‘ sowie ß und ß‘ als Wechselwinkel gleich groß. Gemeinsam mit dem Winkel ϒ bilden α‘und ß‘ einen 180° - Winkel. Die Summe der Innenwinkel α, ß und ϒ ist somit ebenfalls stets 180°.

Er wandte seine Widerspruchsbeweis auf diesen Satz an und untersuchte zwei Fälle:

a) Die Innenwinkelsumme im Dreieck ist größer als 180°.
b) Die Innenwinkelsumme im Dreieck ist kleiner als 180°.

Im ersten Fall a) kam er zu der Aussage, dass alle Geraden endlich sind, was Euklids 2. Postulat widersprach. Diese Geometrie, in der Euklids 2. und 5. Postulat nicht gültig sind, ist die sogenannte elliptische Geometrie. Sie begegnet uns, wenn wir die Längen- und Breitengrade auf einem Globus betrachten. Diese Geraden sind hier allerdings Kreise. János Bolyai, Nicolai Ivanovich Lobachevsky, Carl Friedrich Gauss und Georg Friedrich Bernhard Riemann entdeckten die elliptische Geometrie erst im 19. Jahrhundert.

Saccheri hatte also die Hälfte des Weges geschafft und wandte sich nun dem zweiten Fall b) zu. Seine  Untersuchungen führten ihn zu Ergebnissen, die zwar absurd schienen aber keinen offensichtlichen Widerspruch ergaben. Er hatte die hyperbolische Geometrie entdeckt. Die "Abscheulichkeit" seiner Ergebnisse interpretierte er jedoch als Widerspruch zu seinem ästhetischen Empfinden der euklidischen Geometrie und glaubte damit das 5. Postulat bewiesen zu haben.

Das passt zu dem was mein Blogger-Kollege Tobias Maier auf dem Heidelberg Laureate Forum aus einem Gespräch mit dem Mathematiker Michael Atiyah erfuhr: 

"When in doubt between truth and beauty, go for beauty. Because you never know if something is actually true.”

Es ist eine tragische Fußnote in der Geschichte der Mathematik, dass Saccheri die von ihm begonnenen Wege nicht weiterging, wie es z. B. der Mathematiker Gerhard Frey beim Versuch des Beweises des letzten Fermatschen Satzes tat. Saccheri hätte einer der berühmtesten Mathematiker werden können.

I shall be telling this with a sigh
Somewhere ages and ages hence:
Two roads diverged in a wood, and I—
I took the one less traveled by,
And that has made all the difference.

Robert Frost, "The Road Not Taken"

Plato und die Papageien: Zur Naturgeschichte des Geistes

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Der Philosoph Plato sah die Sprache als Voraussetzung des Denkens. Er beschrieb das Denken als das "innere Gespräch der Seele mit sich selbst":

"Mir nämlich stellt sich die Sache so dar als ob die Seele, wenn sie denkt, nichts anderes tut als daß sie redet, indem sie selbst sich fragt und die Frage beantwortet und bejaht und verneint.“

Plato, Theaiteth 190a.

Bei der Frage, ob unser Denken abhängig von Sprache ist, sind sich moderne Kognitionsforscher darin einig, dass es eine Form des Denkens gibt, die keiner Sprache bedarf und eine abstrakte gibt, die auf Sprache zurückgreift. Das heißt, auch ein Lebewesen das nicht sprachfähig ist aber ein entsprechend komplexes Nervensystem besitzt, kann denken.

Der Kognitionswissenschaftler Jerry Fodor spricht in diesem Zusammenhang von einer „Language of Thought“ (LOTH). Seiner Meinung nach arbeitet der Geist mit Repräsentationen der Wirklichkeit, die nach einer dem Mentalen eigenen Syntax zu ganzheitlichen Gedanken zusammengesetzt werden. „Repräsentationen der Wirklichkeit“, weil die Welt nicht so ist, wie wir sie denken. „Das Ding an sich“ schrieb Kant, bleibt uns verborgen. Die Vernunft kann nur das an der Natur erkennen, was sie vorher in sie hineindenkt.

Tiere haben andere Repräsentationen der Wirklichkeit als der Mensch: Der Fangschreckenkrebs kann auch im UV-Bereich Farben wahrnehmen. Bei Lila hört bei uns der Regenbogen auf, beim Krebs geht es danach erst richtig los. Jenseits von Lila beginnt die ultraviolette Strahlung, die für das menschliche Auge unsichtbar ist, insofern ist es unmöglich, die Farben zu beschreiben, da kein Mensch sie je gesehen hat. Der Ruf der Fledermaus ist für das menschliche Ohr zu hoch. Auch die akustische Kommunikation der Elefanten liegt außerhalb unserer Hörfähigkeit: Sie kommunizieren im Infraschallbereich mit Frequenzen unterhalb von 16 Hertz. Diese Laute sind für das menschliche Gehör zu tief.

Am Ende meines Blogposts „Auf Dr Doolittles Spuren: Lautlernen und Interspecies-Kommunikation“ schrieb ich zur Interspecies-Kommunikation:

„Am meisten interessiert mich an der Interspecies-Kommunikation der propositionale Akt: Wenn ich einem Papagei das Wort „Demokratie“ beibringe, erwarte ich zwar ein neuronales Korrelat in seinem Gehirn aber keine abstrakte mentale Repräsentation. Demokratie gehört nicht zur Lebenswelt des Papageis und ist auch nicht sinnlich erfahrbar. Wenn ich dem Papagei das Wort „Banane“ beibringe und ihm gleichzeitig eine Banane zeige glaube ich sowohl an ein neuronales Korrelat als auch an eine mentale Repräsentation. Die Banane gehört sowohl zur Lebenswelt des Papageis als auch zu meiner.“

Papageien können nicht nur Worte der menschlichen Sprache lernen, sie sind sogar zu einem rudimentären begrifflichen Denken fähig. Die Verhaltensbiologin Irene Pepperberg führte vor dem Hintergrund der epistemischen Begriffstheorie sprachpsychologische Experimente mit dem Kongo-Graupapagei (Psittacus erithacus erithacus) Alex durch. Die Ergebnisse dieser Studien verblüfften Kognitionsforscher wie Laien gleichermaßen [1].

Die epistemische Begriffstheorie

Laut der epistemischen Theorie der Begriffe erfüllen Begriffe zwei zentrale Aufgaben: Erstens ordnen sie Objekte gemäß bestimmter Eigenschaften: Ein kognitives System muss diese als Merkmale von Gegenständen repräsentieren können. Bloß ein Merkmal in einer Situation zu unterscheiden genügt nicht. Zweitens: Begriffe sollen auch in neuen Situationen anwendbar und nicht nur von einem einzigen Schlüsselreiz aktivierbar sein. Um Objekte und Eigenschaften getrennt zu repräsentieren und schließlich Begriffe zu haben, muss ein kognitives System wiederum vier Dinge können:

1. Die Eigenschaft, rot zu sein, muss es beispielsweise mehreren Dingen zuordnen können, nicht nur einem Ball, sondern auch einer Blüte oder einem Auto.

2. Ferner muss das System dem jeweiligen Gegenstand auch an weiteren Eigenschaften erkennen können – etwa daran, dass er rund ist oder duftet.

3. Für einen Begriff ROT ist wiederum charakteristisch, dass er nicht allein durch die Wahrnehmung eines roten Gegenstands, sondern auch durch erlernte Reize in neuen Situationen aktiviert werden kann, zum Beispiel beim Menschen durch das Aussprechen des Worts „rot“.

4. Zuletzt gilt es die Eigenschaft rot zu sein, richtig einzuordnen – nämlich als eine Farbe und nicht etwa als Gefahrsignal.
Diese vier Kriterien können – im allgemeiner Form – Begriffe eindeutig definieren und zwar unabhängig davon, ob jemand über Sprache verfügt oder nicht.

Der Afrikanische Graupapagei

Kongo-Graupapagei (Psittacus erithacus erithacus)

Kongo-Graupapagei (Psittacus erithacus erithacus)

Den Afrikanischen Graupapagei (Psittacus erithacus) gibt es in zwei Unterarten, und zwar den Kongo-Graupapagei (Psittacus erithacus erithacus), dessen Verbreitungsgebiet eher das zentrale Afrika (Südosten der Elfenbeinküste, Angola, westliches Kenya, Tanzania) ist, und den etwas kleineren Timneh-Graupapagei (Psittacus erithacus timneh), der im Westen Afrikas (Guinea-Conakry, Ghana, Elfenbeinküste) zu Hause ist. Sie wohnen in tropischen Reegenwäldern, Mangrovensümpfen und Feuchtsavannen. Graupapageien sind ausgesprochen soziale Vögel und können 60 Jahre alt werden. Außerhalb der Brutzeit leben sie in großen Schwärmen, die nicht selten mehrere Hundert Vögel umfassen. Die Tiere übernachten gemeinsam auf Schlafbäumen und fliegen morgens zusammen Wasserstellen an oder gehen auf Nahrungssuche. Das Ganze wird von lautem Kreischen und Pfiffen begleitet, die der Verständigung dienen. Brutwillige Paare sondern sich vom Schwarm ab. Bei Papageien ist die Paarbindung sehr stark, sie dauert in der Regel ein ganzes Leben lang.

Der Afrikanische Graupapagei ist einer der am häufigsten als Heimtier gehaltenen Papageien. Oft werden sie wegen ihrer Sprachbegabung angeschafft und dann als Einzeltier gehalten. Manche Tierschützer behaupten ein sprechender Papagei sei das Resultat einer nicht artgerechten Einzeltierhaltung: Viele Papageien würden nur sprechen, weil sie allein (das heißt ohne Artgenossen) gehalten werden. Fakt ist jedoch, auch in der Gruppe lernen die Vögel sprechen. Der Mensch muss sich allerdings viel Zeit nehmen und braucht Geduld.

Afrikanische Graupapageien können im Durchschnitt ungefähr 100 Worte lernen. Kongo-Graupapageien beginnen zu sprechen wenn sie zwischen 12 und 18 Monate alt sind, Timneh-Graupapageien zwischen 6 Monaten und einem Jahr. Dabei muss der Halter berücksichtigen, dass nicht alle Graupapageien begabt dafür sind, Worte und Laute nachzuahmen, sondern dass es durchaus Exemplare gibt, die niemals sprechen lernen (oder es nicht lernen wollen).

„Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört, Es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.“

Mephistopheles in Goethes „Faust“, Hexenküche

Sprachpsychologische Experimente mit Graupapageien

Pepperberg lehrte Alex Worte indem sie ein Verfahren des Zoologen Dietmar Todt benutzte. Dabei führen zwei Menschen dem Papagei ein Rollenspiel vor. Das Rollenspiel zwischen Pepperberg und ihrer Studentin Pamela Banta lief etwa so ab:
Banta hält ein Stück Papier in die Höhe und fragt: "Irene, was ist das?" Pepperberg antwortet mit einem knarzenden Papageienlaut. Die Studentin ermahnt: "Irene, du weißt es." Jetzt antwortet Pepperberg "Papier", und Banta gibt ihr das Stück mit den Worten: "Das ist richtig. Papier." Nur bei richtiger Antwort erhält die Versuchsperson den Gegenstand. Danach wechseln die beiden die Rollen, um dem Papagei zu zeigen, dass Frage und Antwort nicht an bestimmte Personen gebunden sind.
Zeigte Pepperberg Alex einen roten Korken, so konnte Alex den Gegenstand benennen und ihm entsprechende Eigenschaften zu ordnen: „Korken“, “rot“, rund“. Das gelang Alex mit den Eigenschaften selbst dann, wenn ihm Dinge gezeigt wurden, die er aus der Trainingsphase noch nicht kannte! Er erfüllte damit mindestens die ersten drei Bedingungen für begriffliches Denken.

1. Er konnte die Eigenschaft „rot“ an verschiedenen Objekten erkennen.

2. Er war in der Lage, ein Objekt mit verschiedenen Eigenschaften zu verknüpfen: sowohl mit dem Begriff ROT als auch mit dem Begriff RUND.

3. Er beantwortete die Frage nach der Form oder Farbe erst dann, wenn er danach gefragt wurde.

4. In einem weiteren Experiment zeigte Pepperberg dem Papagei zwei Gegenstände, die sich nach Form, Farbe oder Material unterschieden. Zum Beispiel ein grünes Dreieck aus Holz und ein blaues Dreieck aus Plastik. Die Frage ist: "Was ist gleich?" Die richtige Antwort: "Form." Oder man fragte ihn: "Was ist verschieden?" Dann sagte Alex "Farbe", aber nicht "grün" oder "blau". Damit erfüllte der Papagei auch noch das vierte Kriterium der epistemischen Begriffstheorie, denn er klassifizierte die Eigenschaften „grün“ und „blau“ als Farben und das „Dreieck“ als Form.

Alex lernte etwa 50 verschiedene Gegenstände wie Spielzeuglastwagen (aus Gummi, Metall oder Plastik), Schachteln (Metall, Papier, Plastik), Tassen, Ketten, Schlüssel oder Korken kennen. Er konnte sieben Farben benennen: Rosa, Grau, Grün, Rot, Blau, Gelb und Orange. Er kannte sechs Formen und die Bezeichnungen für Materialien wie Papier, Wolle, Stein oder Metall. Er erkannte "gleich" und "verschieden", "größer" und "kleiner".

Alex besaß auch einen Zahlensinn: Er konnte geringe Anzahlen von Gegenständen (bis zu einer Obergrenze von acht) wahrnehmen und unterscheiden. Die Psychologin Elizabeth Spaepen entdeckte, dass das Verständnis von Mengen an die Sprache gekoppelt ist [2]. In ihrer Studie mit taubstummen Menschen, die keine offizielle Zeichensprache erlernt haben, stellte sie fest, dass diese Schwierigkeiten haben das Konzept von größeren Zahlen und Mengen zu erfassen.

Spaepen wählte für ihre Versuche vier taubstumme Probanden aus Nicaragua, sogenannte Home Signers, die aufgrund ihrer Lebensumstände keine Möglichkeit gehabt hatten, eine offizielle Zeichensprache zu erlernen und Schulbildung zu erhalten. Sie benutzen stattdessen selbst entwickelte Gesten, um sich mit vertrauten Menschen zu verständigen. Dabei gebrauchen sie durchaus auch ihre Finger, um Mengen zu verdeutlichen, wie die Forscher feststellten, können aber nicht im eigentlichen Sinne zählen. Ihre übrigen geistigen Fähigkeiten waren normal ausgebildet. Als Vergleichsprobanden dienten ihr Personen mit gesundem Hörvermögen aus Nicaragua, die zählen können, jedoch keine Schulbildung besitzen, sowie taubstumme Personen, die sich der hoch entwickelten Zeichensprache inklusive des Zahlensystems bedienen.

Bei den Tests sollten die Probanden beispielsweise den Inhalt einer animierten Bildergeschichte wiedergeben, die mit Zahlen und Mengen zu tun hatte. Bei anderen Aufgaben sollten sie bestimmte Mengen von Objekten auf einer Karte mit ihren Fingern wiedergeben. Diese Tests erfolgten auch unter Zeitdruck, um Aufschluss über die Geschwindigkeit der Informationsaufnahme zu gewinnen.

Ab der Zahl Drei hatten die Home Signers bereits Schwierigkeiten, die Informationen über ihre Finger korrekt wiederzugeben. Sie versuchten es zwar, aber sie machten dabei deutlich mehr Fehler als die Vergleichsprobanden. Homesigners hatten auch Schwierigkeiten sich die Anzahl von Gegenständen zu merken, je größer die Anzahl war, desto größer waren die Schwierigkeiten. Bei den Kontrollen war das nicht der Fall [3]. Die Ergebnisse legen nahe, dass das Zahlenverständnis sich gemeinsam mit sprachlichen Zahlenkonzepten entwickelt.

Alex' Können reichte weit über einfaches Erinnern hinaus. Alex musste die Frage verstehen, Eigenschaften analysieren, abstrahieren und vergleichen, eine Entscheidung treffen und sein Vokabular nach der richtigen Bezeichnung durchsuchen - Fähigkeiten, von denen man einst annahm, dass ausschließlich der Mensch sie besitzt. Alex erfand auch eigene Worte: Als er einmal zu seinem Geburtstag mit Kuchen gefüttert wurde, nannte er den Kuchen „lecker Brot“.

Natürlich lernte Alex diese Dinge über einen Zeitraum von mehr als 25 Jahren und kam mit seinem begrifflichen Denken nicht über das Niveau eines Schulanfängers hinaus. Es war aber auch nicht seine Welt und seine Art zu kommunizieren, sondern die des Menschen. Ein Papageienhirn muss andere Dinge können.

Nova Science Now: Irene Pepperberg & Alex

Weiterführende Literatur

[1] Pepperberg, I.M. (1990). An investigation into the cognitive capacities of an African Grey Parrot (Psittacus erithacus). Advances in Study of Behavior, P.J.B. Slater, J.S. Rosenblatt, C. Beer, eds., Academic Press.

[2] Spaepen E, Coppola M, Spelke ES, Carey SE, Goldin-Meadow S. (2011) Number without a language model, PNAS, 108(8), 3163-3168.

[3] Spaepen E, Coppola M, Flaherty M, Spelke E, Goldin-Meadow S. (2013) Generating a lexicon without a language model: Do words for number count? J Mem Lang., 69(4). doi: 10.1016/j.jml.2013.05.004.

Auf Dr Doolittles Spuren: Lautlernen und Interspecies-Kommunikation

Irene Pepperberg (2005) Titel, Gehirn & Geist, 10/2005, S.18

Bildnachweis

Autor: Olaf Oliviero Riemer
Titel: Junger Kongo-Graupapagei (Psittacus erithacus erithacus) im Weltvogelpark Walsrode (vormals Vogelpark Walsrode), Deutschland)
Lizenz: This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported license.

Romeo und Julia: Die tragische Geschichte hinter ICD10-GM-2015: I46.0

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Julia liebt Romeo, der aus Verona verbannt wurde. Ihre Eltern wollen jedoch, dass sie den Grafen Paris heiratet. Verzweifelt bittet sie den Franziskanermönch Lorenzo um Rat, finde er keinen, droht sie sich zu töten und zieht ein Messer. Lorenzo schlägt ihr daraufhin einen Plan vor: Er gibt Julia einen Schlaftrunk mit, der sie für 42 Stunden scheintot macht. Ihre Eltern werden sie bestatten, Lorenzos Mitbruder Markus wird in der Zwischenzeit Romeo benachrichtigen und der wird sie aus der Familiengruft befreien. Gemeinsam werden sie dann aus Verona fliehen. Julia willigt in den Plan ein.

Das zur dramatischen Rahmenhandlung, nun zu den Details, die für den Kardiologen interessant sind. Geben wir Bruder Lorenzo das Wort:

Wohl denn! Geh heim, sei fröhlich, will’ge drein,
Dich zu vermählen: morgen ist es Mittwoch;
Sieh, wie du morgen Nacht allein magst ruhn;
Laß nicht die Amm’ in deiner Kammer schlafen.
Nimm dieses Fläschchen dann mit dir zu Bett,
Und trink den Kräutergeist, den es verwahrt.
Dann rinnt alsbald ein kalter matter Schauer
Durch deine Adern, und bemeistert sich
Der Lebensgeister; den gewohnten Gang
Hemmt jeder Puls und hört zu schlagen auf.
Kein Odem, keine Wärme zeugt von Leben;
Der Lippen und der Wangen Rosen schwinden
Zu bleicher Asche; deiner Augen Vorhang
Fällt, wie wenn Tod des Lebens Tag verschließt.
Ein jedes Glied, gelenker Kraft beraubt,
Soll steif und starr und kalt wie Tod erscheinen.
Als solch ein Ebenbild des dürren Todes
Sollst du verharren zweiundvierzig Stunden,
Und dann erwachen wie von süßem Schlaf.

(4. Akt, 1. Szene, Nach der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel)

Der Kräutergeist macht Julia für 42 Stunden klinisch tot. Wenn wir bedenken, dass die Geschichte 1596 also im Elisabethanischen Zeitalter spielt, dann sind an Lorenzos Ausführungen zwei Dinge bemerkenswert: der physiologische Wirkmechanismus und die kardioplegische Lösung.

Der physiologische Wirkmechanismus

Schauen wir uns einige Textstellen aus Lorenzos Erläuterung genauer an um den Wirkmechanismus zu verstehen.

  • Dann rinnt alsbald ein kalter matter Schauer
    Durch deine Adern, und bemeistert sich
    Der Lebensgeister;

Dein Blut und deine Nerven werden kalt. Dadurch wirst Du betäubt und gelähmt. Im elisabethanischen Zeitalter betrachteten die Menschen die Nerven als Kanäle, durch die ein sehr feines flüchtiges Fluidum fließt. Shakespears Zeitgenossen fassten dieses Fluidum als Prinzip und Ursache von Empfindlichkeit und Beweglichkeit auf und versahen es mit dem Sammelbegriff Lebensgeister. Sie glaubten die Abwesenheit der Lebensgeister sei die Ursache für die Bewegungslosigkeit und Kälte toter Körper. Der neuzeitliche Philosoph Descartes war da anderer Meinung: Die Lebensgeister fliehen, wenn man stirbt, weil die Wärme entschwindet und die Organe, die dem Körper die Bewegung ermöglichen, sich auflösen. Damit gab Descartes dem Körper eine neue Bedeutung, die ihn nicht mehr zum bloßen Anhängsel der alles steuernden Seele macht. Vielmehr denkt er den Körper als Automat, d. h. als eine Maschine, die sich aus sich selbst bewegt.

Die Idee der Lebensgeister geht auf das Pneuma der antiken griechischen Philosophie zurück: Das Pneuma ist die materielle Lebenskraft, die für alle physiologischen Vorgänge verantwortlich ist. Zusammen mit dem Blut bewegte es sich durch die Adern. Manche antike Ärzte vermuteten den Sitz des Pneumas im Gehirn, andere im Herzen. Aristoteles unterschied zwei Arten von Pneuma: Erstens Pneuma zur Erhaltung der Körpertemperatur, das von außen eingeatmet wurde. Zweitens angeborenes, aus dem Blut verdunstetes Pneuma im Herzen. Straton von Lampsakos nahm an, die Absonderung von Pneuma bewirke Schlaf. Nach Erasistratos gab es ein Lebenspneuma im Herzen und ein psychisches Pneuma im Gehirn. Erasistratos vermutete Blut in den Venen, Pneuma in den Arterien und psychisches Pneuma in den Nerven.

  • den gewohnten Gang
    Hemmt jeder Puls und hört zu schlagen auf.

Dein Herz hört auf zu schlagen.

  • Kein Odem, keine Wärme zeugt von Leben;

Deine Lunge atmet nicht mehr, der ganze Körper wird kalt.

  • Der Lippen und der Wangen Rosen schwinden
    Zu bleicher Asche

Deine Lippen und Wangen erblassen, weil kein Blut mehr fließt.

  • deiner Augen Vorhang
    Fällt, wie wenn Tod des Lebens Tag verschließt.

Du verlierst das Bewusstsein.

  • Ein jedes Glied, gelenker Kraft beraubt,
    Soll steif und starr und kalt wie Tod erscheinen.

Deine Skelettmuskulatur ersteift und wird kalt.

Lorenzos Kräutergeist kühlt das Blut und die Nerven und stoppt damit den Herzschlag. Der Herzstillstand verhindert die Atmung und unterbricht den Blutkreislauf. Lorenzos Konzept ist ein induzierter klinischer Tod durch Unterkühlung mit Wiederbelebung. Seine Beschreibung der klinischen Symptome ähnelt stark der modernen Beschreibung der klinischen Symptome bei einer fortschreitenden Unterkühlung des Körpers (Hypothermie). Diese verläuft in drei Phasen:

Phase I (bei Rektaltemperatur von 37-34°C): erhöhte Kälteabwehr durch Hautgefäßkontraktion, Steigerung des Sauerstoffverbrauchs, der Herzfrequenz, des Blutdrucks u. der Wärmeproduktion (Kältezittern)

Phase II (34-27°C): fortschreitende Schmerzunempfindlichkeit, Puls- u. Atemverlangsamung, Muskelstarre, Reflexabschwächung, Absinken des Energiestoffwechsels; ab ca. 32°C Bewusstlosigkeit, Zusammenbruch der Wärmeregulation

Phase III (27-22°C): allmähliches Erlöschen aller autonomen Körperfunktionen bis zum Kältetod (bis 18°C evtl. abwendbar).

Ich vermute, dass Lorenzo, wie viele Mönche damals, Naturforscher war und durch seine Beobachtungen von Tieren zu seinem Plan inspiriert wurde. Ich denke da an die Winterstarre von wechselwarmen Tieren wie Fischen, Fröschen, Eidechsen, Schildkröten und Insekten. Wenn es sehr kalt wird, erstarren ihre Körper und sie wachen erst wieder auf, wenn es Frühling und draußen wärmer wird. Sie einfach aufzuwecken, ist bei diesen Tieren nicht möglich. Der Stoffwechsel wird stark verlangsamt. Es erfolgt weder Muskelkontraktion noch Nahrungsaufnahme. Die Tiere sind während der Winterstarre völlig bewegungsunfähig.

Bei einem weiteren Rückgang der Temperatur auf für das Tier tödliche Werte (Letalwerte), tritt der Kältetod ein. Um ihm zu entgehen, suchen sich Tiere, die in Winterstarre fallen, möglichst frostgeschützte Plätze zur Überwinterung auf. Frösche vergraben sich im Winter entweder im Schlamm oder suchen kleine Mäusegänge, um in Winterstarre zu fallen. Dort gefriert es nur selten. Insekten verstecken sich im Holz und in kleinen Ritzen. Sie haben eine Art Frostschutzmittel in ihrem Körper: Selbst wenn draußen Minustemperaturen sind, friert ihre Körperflüssigkeit nicht ein, sondern bleibt flüssig

Julias Scheintod (4. Akt, 5. Szene) Jean Pierre Simon (1750-1810) fertigte diese Gravur 1792 nach einem Gemälde von John Opie (1761–1807) an.

Julias Scheintod (4. Akt, 5. Szene) Jean Pierre Simon (1750-1810) fertigte diese Gravur 1792 nach einem Gemälde von John Opie (1761–1807) an.

Die kardioplegische Lösung

Eine kardioplegische Lösung ist eine Flüssigkeit, die der Arzt benutzt um bei seinem Patienten einen Herzstillstand auszulösen.

Lorenzo benutzte als kardioplegische Lösung Kräutergeist.

Kräutergeist: Eine handvoll Kräuter mit Korn oder Wodka bedeckt reift im Glas ca. vier Wochen in der Sonne. Die Kräuter müssen immer mit Flüssigkeit bedeckt sein und oben im Glas muss ca. 1/3 Luft bestehen bleiben. Nach dem Aufguss mit Kandiszucker und Alkohol kann man es direkt trinken oder zur Geschmacksabrundung 12 bis 15 Jahre warten.

Die kardioplegische Lösung enthält also pflanzliche Wirkstoffe, die in Alkohol gelöst sind.

Welche Pflanzen hätte Lorenzo für die Herstellung der kardioplegischen Lösung nutzen können?

Setzen wir das damalige Wissen der Pflanzenheilkunde voraus, kommen Weidenrinde und Eisenhut dafür in Betracht: Weidenrinde enthält Salicin, das die Körpertemperatur senkt, indem es die Produktion von Prostaglandin E2 hemmt, einem Gewebshormon, das die Zellen im Hypothalamus (der Teil des Gehirns, der die Körpertemperatur reguliert) anregt und dadurch die Körpertemperatur erhöht. Eisenhut enthält Aconitin, das die Inaktivierung des spannungsabhängigen Natriumkanals verlangsamt und dadurch den Einstrom von Natriumionen während des Aktionspotenzials verlängert. Das führt später zum diastolischen Herzstillstand. Lorenzo hatte wahrscheinlich die Idee, dass ein hoch dosiertes Gift irreversibel tötet und ein minderdosiertes Gift reversibel tötet.

Heute werden kardioplegische Lösungen vor der Anwendung oft auf 4 °C gekühlt und dann in den Herzmuskel oder in die Herzkranzgefäße (Koronarperfusion) injiziert. In Deutschland entwickelte Bretschneider 1975 eine natrium- und calciumarme Lösung, die einen reversiblen mechanischen und elektrischen Herzstillstand durch Inaktivierung des Natriumeinstroms bewirkt als biologischen Puffer verwendete er Histidin/Histidin-HCL.

Wenn Kardiologen heute am offenen Herz operieren oder ein Herz verpflanzen, verwenden sie kardioplegische Lösungen. Die Blutzufuhr erfolgt in der Zwischenzeit durch die Herz-Lungen-Maschine. Das Blut wird dabei eventuell gekühlt (hypotherme Koronarperfusion). Die verminderte Durchblutung des Herzmuskels kann bei 32 °C 40 Minuten toleriert werden. Wenn der Herzmuskel auf 15–20°C gekühlt wird, kann das Herz bei der hypothermen Koronarperfusion 120 Minuten stillstehen. Die von Lorenzo anvisierten 42 Stunden bleiben also auch im 21. Jahrhundert eine Zukunftsvision.

Was bedeutet der Code ICD10-GM-2015: I46.0?

ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) ist das wichtigste, weltweit anerkannte Diagnose­klassifikationssystem der Medizin. Es wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben. In Deutschland sind Vertragsärzte verpflichtet Diagnosen nach ICD-10 German Modification (GM) zu verschlüsseln. Verbindlich für die Verschlüsselung in Deutschland ist die vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) herausgegebene ICD-10-GM Version 2015. Kapitel IX I00-I99 des ICD-GM-2015 kodiert Krankheiten des Kreislaufsystems. I46.0 steht für Herzstillstand mit erfolgreicher Wiederbelebung.

Parität und Addition: Eine Retroanalyse von Korolkow

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Wladimir Alexandrowitsch Korolkow, Schach 1957

Wladimir Alexandrowitsch Korolkow, Schach 1957

Die meisten Problemkomponisten fragen in ihren Schachproblemen nach dem einzigen Gewinnzug, nicht jedoch Korolkow in diesem Schachproblem: Dort ist der Gewinnzug bereits bekannt. Wenn Weiß am Zug ist, schlägt er mit dem Springer auf d5 den Bauern auf c7 und setzt matt. Wenn Schwarz am Zug ist, schlägt er mit dem Springer auf a1 den Bauern auf c2 und setzt Matt. Daher lautet die Frage bei dieser Retroanalyse: Wer ist am Zug?

Wie soll das allein aus der Diagrammstellung heraus festgestellt werden? Immerhin können die Springer, Türme und Könige beider Seiten eine beliebige Anzahl von Zügen ausgeführt haben und scheinbar kann deshalb sowohl Weiß als auch Schwarz am Zug sein.
Nein. Diese Stellung ist mathematisch eindeutig.

Das Konzept der Parität

Zur Lösung dieser Aufgabe verwenden wir das Konzept der Parität. Der Begriff Parität wird in der Mathematik verwendet, um bei Zahlen zwischen gerade und ungerade zu unterscheiden. Wenn zwei ganze Zahlen beide gerade oder beide ungerade sind, so haben sie dieselbe Parität. Bedenke, dass die Summe aus gerade plus ungerade eine ungerade Zahl ergibt; andererseits die Summe aus ungerade plus ungerade oder gerade plus gerade immer zu einer geraden Zahl führt.

Die Diagrammstellung befindet sich noch nah genug an der Grundstellung.

Die Grundstellung beim Schach

Die Grundstellung beim Schach

Ausgehend von der Grundstellung ziehen die Spieler abwechselnd. Weiß macht den ersten Zug (ungerade). Schwarz macht den zweiten Zug (gerade). Weiß macht den dritten Zug (ungerade) usw.. Ist eine gerade Anzahl von Zügen geschehen wissen wir Weiß ist am Zug. Ist eine ungerade Anzahl von Zügen geschehen wissen wir Schwarz ist am Zug. (Für Freunde der Zahlentheorie: In der Grundstellung ist die Anzahl der Züge Null. Null ist eine gerade Zahl, also ist Weiß am Zug.)

Die Parität der Zahl der weißen Züge und der Zahl der schwarzen Züge

Wir müssen also beim Problem von Korolkow herausfinden, ob eine gerade oder eine ungerade Anzahl von Zügen geschehen ist.

Beginnen wir mit Weiß: Welche Figuren haben gezogen?

Bauer, Springer, Türme

Bauer auf a2 hat einmal gezogen (ungerade)
Turm auf a1 hat gezogen (ungerade)
Turm auf h1 hat gezogen (ungerade)

Die Springer haben insgesamt eine ungerade Zahl von Zügen ausgeführt. Wie viele Züge das sind, ist unbekannt, aber es ist eine ungerade Zahl.

In der Grundstellung steht der Springer auf b1 auf einem weißen Feld. Ein Springer wechselt bei jedem Zug die Farbe seines Standfeldes. Im ersten Zug zieht der Springer b1 auf ein schwarzes Feld (ungerade) von dort im Zweiten auf ein weißes (gerade).
In der Grundstellung steht der Springer auf g1 auf einem schwarzen Feld. Im ersten Zug zieht der Springer g1 auf ein weißes Feld (ungerade) von dort im Zweiten auf ein schwarzes (gerade).

Weiß hat eine gerade Zahl von Zügen gemacht: (ungerade + ungerade) + (ungerade + ungerade)

Nun zu Schwarz: Welche Figuren haben gezogen?

Bauern, Springer, Türme

Bauer auf a7 hat einmal gezogen (ungerade)
Bauer auf h7 hat einmal gezogen (ungerade)
Turm auf a8 hat gezogen (ungerade)
Turm auf h8 hat gezogen (ungerade)

Die beiden Springer befinden sich auf Feldern der gleichen Farbe, sie haben also insgesamt eine ungerade Zahl von Zügen ausgeführt.
Schwarz hat eine ungerade Zahl von Zügen gemacht: (ungerade + ungerade) + (ungerade + ungerade) + ungerade

Zahl der weißen Züge (gerade) + Zahl der schwarzen Züge (ungerade) = ungerade Gesamtzahl von Zügen

Also ist Schwarz am Zug.

Eine Lösung von Korolkows Retroanalyse

Ausgehend von der Grundstellung ist eine mögliche Zugfolge die zum Problem von Kolrokow führt die folgende:

1. a3 a6 2. Sc3 h6 3. Sf3 Ta7 4. Tb1 Th7 5. Tg1 Sc6 6. Sg5 Sf6 7. Se6 Sg4 8. Sxd8 Se3 9. Se6 Sxd1 10. Sf4 Se3 11. Sd1 Sf5 12. Th1 Sfd4 13. Tg1 Sb3 14. Th1 Sa1 15. Tg1 Sd8 16. Sd5

Wie Du siehst zählen Schachspieler die Züge anders als Mathematiker. Nach der mathematischen Zählweise sind 31 Züge geschehen ein Schachspieler würde jedoch sagen: „Wir befinden uns im 16. Zug“ Das bedeutet der 16. Zug ist noch nicht abgeschlossen. Der 16. Zug würde erst abgeschlossen sein wenn Schwarz zieht. Schwarz ist also am Zug. Eine andere Redewendung wäre: „Die Stellung nach dem 15. Zug.“ Das bedeutet der 15. Zug ist abgeschlossen und Weiß ist am Zug.

Der Mathematiker zählt erster Zug, zweiter Zug usw. Der Schachspieler zählt erster Zug Weiß, erster Zug Schwarz, zweiter Zug Weiß zweiter Zug Schwarz usw.

Die oben aufgeschriebene Zugfolge ist eine Lösung von vielen für dieses Problem. Alle Lösungen haben gemeinsam, das sie diese Züge enthalten müssen und das die Zahl der ausgeführten Züge ungerade ist. Die Lösungen unterscheiden sich nur in der Reihenfolge dieser Züge und in der Anzahl der Züge.

Meine Fragen an die Mathematiker:

Wie viele Zugfolgen gibt es die nach 31 Zügen (mathematische Zählweise) zur Stellung von Korolkow führen?

Das sind die Lösungen mit der kürzesten Anzahl von Zügen.

Zusätzlich muss für die anderen längeren Lösungen folgende Bedingungen (Schachregeln) bedacht werden: Nach 75 Zügen ohne Bauernzug oder Schlagzug ist die Partie jedenfalls remis, ein etwaiges Matt im letzten Zug hat aber Vorrang. Wenn Weiß  am Zug ist kann er durch die 50-Züge-Regel oder 3-malige Stellungswiederholung ein Remis reklamieren. (Entsteht 5-mal direkt hintereinander dieselbe Stellung, so ist die Partie ebenfalls Remis.)

Daher muss es für die Lösungen von Korolkows Problem eine obere Grenze für die Anzahl der Züge geben. Ich vermute, dass diese Zahl 165 ist (mathematische Zählweise). Mich würde es aber nicht wundern wenn diese Zahl um einiges kleiner als 165 ist.

Unter den oben genannten Bedingungen: Was ist die obere Grenze für die Anzahl der Züge (mathematische Zählweise) für die Lösungen von Korolkows Problem?

 

Kohärent voll im Trend? Ein Gastbeitrag von Serge Palasie

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Überlegungen zu einem Begriff, der in aller Munde ist

Kohärenz als beschlossene Sache der Politik

Wie so oft mangelt es nicht an der theoretischen Kenntnis notwendiger Prozesse, die es einzuleiten gilt, wenn man in bestimmten Bereichen (positive) Änderungen erzielen möchte. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele – um ein besonders aktuelles herauszugreifen, sei die vor kurzem beendete Klimakonferenz in Paris genannt. An positiven Absichtserklärungen mangelt es in den seltensten Fällen. So verhält es sich auch mit der sehr viele Bereiche (um nicht zu sagen alle Bereiche) umfassenden Politikkohärenz, also der Stimmigkeit aller Politikfelder unter- bzw. zueinander. Keines soll hierbei ein anderes durch sein eigenes Handeln negativ beeinflussen. Bezogen auf Politikkohärenz für Entwicklung (Policy Coherence for Development (PCD)), die als offizielles Leitprinzip der OECD und EU beschlossen wurde, heißt dies, dass alle Politikbereiche eine Mitverantwortung für Entwicklung (im sogenannten Globalen Süden) tragen. Mindestforderung ist hierbei, dass das Handeln in anderen Politikfeldern die Entwicklungszusammenarbeit (EZ) bzw. genauer gesagt die Situation in den Ländern, auf die sich die jeweilige EZ bezieht, nicht negativ beeinflussen oder gar verschlechtern darf. Dabei liegt der Fokus von PCD in den folgenden Bereichen: Handel und Finanzen, Klimawandel, Ernährungssicherheit, Migration und Sicherheit. Um sicherstellen zu können, dass die Zielsetzung von PCD auch tatsächlich ernst genommen wird, gibt es fortlaufende Kontrollen; zumindest aber wurden Kontrollmechanismen etabliert.

Nachdem die MDG (Millennium Development Goals) weitestgehend „klassische“ Entwicklungsziele darstellten, in denen EZ nahezu völlig isoliert von anderen, in ihrer unmittelbaren Wirkkraft mächtigeren und einflussreicheren Politikfeldern betrachtet wurde, sind die Ende September 2015 durch die politische Führungsriege der Weltpolitik ratifizierten SDG (Sustainable Development Goals, auch Weltnachhaltigkeitsziele genannt) zumindest von der Intention her ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung hin zu mehr tatsächlicher Politikkohärenz bezogen auf Entwicklung. Erstmals werden die Felder Wirtschaft einschließlich des wichtigen Bereichs der Unternehmensverantwortung sowie der Bereich der Ökologie und der Klimapolitik konsequent zusammen mit Entwicklung gedacht. Beim Lesen der SDG – besonders, wenn man die feierliche Präambel mitliest – drängt sich einem unweigerlich der Gedanke auf, dass das alles viel zu schön ist, um wahr zu werden. Aber: Solange die Realität uns im negativen Sinne nicht einholt, wollen wir – und ich tue dies ebenfalls bis auf weiteres – zuversichtlich bleiben.

Kohärenz im Bereich Migration und Entwicklung

Eine kohärente Politik sollte in puncto Migration und Entwicklung darauf abzielen, dass möglichst viele Beteiligte (individuell sowie kollektiv – also als Herkunfts- bzw. Zielland oder -region…) möglichst stark von den globalen Migrationsprozessen profitieren bzw. dass ihnen dadurch möglichst geringer Schaden entsteht. Angesichts der derzeitigen Flucht- und Migrationsbewegungen vor allem aus dem Nahen Osten und Afrika gen EU-Gebiet ist die Frage, ob hier alles weitestgehend kohärent läuft, von besonders aktueller Relevanz. Hier muss strikt zwischen individuell und kollektiv sowie hier und dort unterschieden werden. Dass Aufnahmegesellschaften als Ganzes unter dem Strich von Zuwanderung profitieren – zumindest bis zu einem gewissen Punkt – ist weitestgehend anerkannt. Daran ändern auch Massen von zunehmend unzufriedenen Individuen und eine daraus resultierende Panikmache-Politik nichts. Die wenigsten „Einheimischen“ der jeweiligen Aufnahmegesellschaften erfahren tatsächlich unmittelbare Nachteile einer verstärkten Migration. Dazu ist die Dimension der Migration – trotz des schwunghaften Anstiegs – noch viel zu niedrig. Wie aber verhält es sich aufseiten der MigrantInnen und Flüchtlinge? Hier wird es schon komplexer – insbesondere, da wir hier nicht von Migration aus einer sogenannten Industrienation in eine andere Industrienation sprechen, sondern uns auf die Migration aus dem sogenannten Globalen Süden konzentrieren. Individuen, die nicht als illegalisierte Flüchtlinge in Europa ankamen, sind letztlich GewinnerInnen, Illegalisierte oftmals zumindest für eine kürzere oder längere Anfangsphase VerliererInnen. Nun könnte man vorschnell sagen: Nach einer Zeit profitieren also letztlich alle – also „Einheimische“ (zu denen man je nach Maßstab auch etablierte MigrantInnen bzw. deren Nachkommen zählen kann und sollte) und Zugewanderte – in den Aufnahmeländern von der Migration. Man könnte geneigt sein zu sagen, dass also in puncto Migration und Entwicklung Politikkohärenz herrscht. Aber in dieser Rechnung fehlt der Blick auf die Herkunftsländer. Denn so sehr kaum ein/e MigrantIn, die ernsthaft reflektiert und die / der nicht reflexartig die Opferkarte spielt, trotz aller möglicherweise existenten Schwierigkeiten im Aufnahmeland zu dem Schluss kommen wird, dass es ihr mittel- u. langfristig schlechter als vor der Migration geht (falls doch, dann sollte man im eigenen Interesse nochmals alle Handlungsoptionen für sich durchgehen), so sehr gilt für die Herkunftsländer trotz aller Geschichten wie brain gain oder brain circulation etc., dass das zunehmende und dauerhafte Abwandern der besonders Tatkräftigen trotz aller Rücküberweisungen in der Regel eher nachteilig ist. Also gibt es mindestens einen Verlierer sicher: Die Herkunftsländer – und zwar als Ganzes sowie auch in Bezug auf die zurückgebliebenen Individuen. Ein Verlierer reicht aber schon aus, um mangelnde Politikkohärenz im Bereich Migration und Entwicklung auszumachen.

Tatsächlicher Stand in Sachen Kohärenz – Wonach hat sich alles zu richten?

Bezogen auf PCD ergeben sich de facto folgende Probleme, bei denen neben der EZ auch die Asyl-/ Migrationspolitik sowie Sicherheitspolitik betrachtet werden müssen. So werden entwicklungspolitisch motivierte Zusagen nicht selten zweckentfremdet und an Bedingungen geknüpft, die letztlich EU-Interessen im Bereich Sicherheits- und Migrationspolitik fördern (so zum Beispiel Rücknahmeabkommen etwa mit Mauretanien oder dem Senegal, Delegieren von Grenzschutzaufgaben der EU an Dritte (Transit- u. Herkunftsländer; man denke da etwa an die autoritären Regime in Nordafrika insbesondere vor dem sogenannten Arabischen Frühling und an Gaddafis Satz auf dem EU-Afrika-Gipfel 2010 „Fünf Milliarden oder Europa wird schwarz“)).

Schnell wird klar, dass sowohl EZ als auch Asylpolitik nicht als uneigennützige Gewährung von Hilfe betrachtet werden können und dass sich PCD nicht ohne Berücksichtigung weiterer Politikfelder erklären lässt. Und da gelangen wir unweigerlich zu der zentralen Frage: Welches Politikfeld ist tatsächlich die Determinante, nach der sich alles zu richten hat, wenn von Kohärenz gesprochen wird? Bei der Beantwortung dieser Frage müssen die aktuellen globalen Kräfteverhältnisse (die bekanntlich im Wandel begriffen sind) berücksichtigt werden.

Diese sind historisch bedingt und primär ökonomischer Natur. Des einen „Glück“ bedeutet hierbei des anderen „Pech“; und Pech hat in diesem Falle der sogenannte Globale Süden, der vielfach durch historisch gewachsene und stetig weiter ausgebaute Abhängigkeitsverhältnisse mit dem sogenannten Globalen Norden und mittlerweile auch weiteren Global Players wie etwa China ehern verbunden ist. Daraus resultierende Folgen sind etwa eine mangelnde bis nicht vorhandene Souveränität über eigene Ressourcen (im Boden, an Land und im Wasser), die Abhängigkeit von Weltmarkpreisen bei sich stetig verschlechternden „terms of trade“ (d.h. vereinfacht, dass Rohstoffe immer billiger werden, während verarbeitete Fertigprodukte gleichzeitig immer teurer werden) und die Überschwemmung der eigenen Märkte etwa mit hoch subventionierten Agrarerzeugnissen aus dem sogenannten Globalen Norden (und anderen Staaten wie z.B. China oder Brasilien). All dies hemmt und zerstört vielfach Entwicklung(en) vor Ort bzw. macht positive Effekte von EZ zunichte. Das Bekämpfen von Migrations- und Fluchtursachen bzw. das Schaffen von Perspektiven vor Ort gelingt daher unter dem Strich nicht. Daher ist die gebetsmühlenartige Wiederholung der Forderung nach good governance in den Ländern des Globalen Südens insofern ignorant, indem sie scheinbar nicht berücksichtigt, dass wirkliche und nachhaltige gute Regierungsführung nur dann tatsächlich umgesetzt werden kann, wenn die ökonomischen Grundlagen dafür da sind. Daher gilt: Selbst wenn aus bad governance – was immer wieder als ein Hauptgrund für Miseren vor Ort genannt wird – good governance werden sollte, ist es zweifelhaft, ob sich tatsächlich etwas grundlegend vor Ort verbessern wird. Ohne ökonomische Souveränität wird keine dauerhafte Verbesserung der Verhältnisse vor Ort zu erwarten sein. Für die nachhaltige Schaffung von Grundlagen für good governance ist eine funktionierende, breit gefächerte Wirtschaft Voraussetzung, die beispielsweise nicht nur Bodenschätze und sonstige Rohstoffe für den Weltmarkt liefert, sondern die diese auch in zunehmendem Maße selbst weiterverarbeitet. Damit wäre allerdings das in der Kolonialzeit geschaffene Muster einer globalen Arbeitsteilung ab einem gewissen Kipppunkt obsolet. Die Frage nach „Glück“ und „Pech“ würde sich zwangsläufig neu stellen. Oder konkreter: Ein auf breiter Ebene wirtschaftlich erfolgreicher Globaler Süden würde der bisherigen Weltwirtschaftsordnung die Grundlage entziehen. Eine Migration von Süd nach Nord wäre dann nicht mehr die Voraussetzung um aus „globalen VerliererInnen“ potentiell „globale GewinnerInnen“ zu machen.

Fazit

Letztlich ist die Politik – und dies gilt gerade auch für die Asyl- Und Entwicklungspolitik – von „double speak“ und „Feigenblättern“ geprägt. Ersteres will heißen, dass etwa eine positive Absichtserklärung schlicht nicht ernst gemeint ist. Letzteres ist unter anderem auf ein schlechtes Gewissen zurückzuführen. Zu diesen „Feigenblättern“ zählen zum Beispiel (temporäre) Zugeständnisse in der Asylpolitik, Bereiche wie der faire Handel oder – wenn man will – sogar die EZ als Ganzes. Es wird suggeriert, dass alles besser wird, obwohl sich das bisherige Weltwirtschaftssystem, also das „big picture“ nicht wesentlich ändert.

Sicherlich ist dies alles in Anbetracht der aktuellen globalen Schieflage besser als nichts. Und vielfach ist es in hohem Maße der Arbeit der in diesem Bereich engagierten Akteure – darunter nicht zuletzt zahllose zivilgesellschaftliche Akteure – zu verdanken, dass sich politische EntscheidungsträgerInnen überhaupt ansatzweise in diese grundsätzlich richtige Richtung bewegen – also gut, dass es diese Akteure gibt. Die eingangs erwähnten SDG, die von oberster politischer Ebene angenommen wurden, wären ohne das zivilgesellschaftliche Engagement wohl kaum zustande gekommen. Eine tatsächlich greifende Strategie von Politikkohärenz würde allerdings einige „Feigenblätter“ überflüssig machen. Ein den gesamten globalen Warenverkehr umfassender fairer Handel würde zum Beispiel ökonomische Voraussetzungen vor Ort schaffen, die jegliche Flucht- und Migrationsursachen on the long run erheblich reduzieren würden. Den Preis dafür würde jedoch das „Global Establishment“ bezahlen müssen.

Autorenporträt Serge Palasie

Serge Palasie, M.A.: Studium der Afrikanistik, der Anglo-Amerikanischen Geschichte und der Iberischen und Lateinamerikanischen Geschichte an der Universität zu Köln. Selbst „zwischen den Kulturen" aufgewachsen, interessierte sich Serge Palasie früh für den Themenbereich Migration, Diaspora, Integration und Entwicklung. Neben Afrikanistik befasste er sich daher auch mit der afrikanischen Diaspora in den Amerikas.

Weiterführende Literatur

Policy coherence: a sensible idea lost in translation?

Spotlight on EU Policy Coherence for Development

OECD Policy Coherence for Development


Besuch des Archivs einer Gelehrtenbibliothek

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Nun ging mir plötzlich auf, dass die Bücher nicht selten von anderen Büchern sprechen, ja, dass es mitunter so ist, als sprächen sie miteinander. Und im Licht dieser neuen Erkenntnis erschien mir die Bibliothek noch unheimlicher. War sie womöglich der Ort eines langen und säkularen Gewispers, eines unhörbaren Dialogs zwischen Pergament und Pergament? Also etwas Lebendiges, ein Raum voller Kräfte, die durch keinen menschlichen Geists gezähmt werden können, ein Schatzhaus voller Geheimnisse, die aus zahllosen Hirnen entsprungen sind und weiterleben nach dem Tod ihrer Erzeuger? Oder diese fortdauern lassen in sich?

Adson von Melk in Der Name der Rose, S. 181.

Wolfgang Burgmair (46) öffnet langsam die Glasschiebetür und zieht vorsichtig ein kleines Buch aus dem Regal. Sein matter, dunkelbrauner Einband bildet einen starken Kontrast zum hellen Weiß des Regals. Bedächtig schlägt er zwei Seiten des ersten Kapitels auf und mustert mit strengem Blick das Papier. Die in Frakturschrift verfassten Zeilen lassen das Alter des Buches bereits ahnen. „Das ist eines unserer ältesten Sammelstücke, von 1526, ein Buch über die Arbeiten des Paracelsus“ erläutert der Archivar mit seiner warmen freundlichen Stimme „Es ist für Laien geschrieben.“

Die Heinrich-Laehr-Stiftungsbibliothek im historischen Archiv des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie beherbergt vieler solcher Schätze aus dem privaten Nachlass eines der bekanntesten deutschen Psychiaters des 19. Jahrhunderts: Heinrich Laehr, geboren am 10. März 1820 in Sagan, studierte Medizin in Halle und Berlin. 1848 begann er seine Ausbildung zum Psychiater und kam 1852 nach Zehlendorf. Dort kaufte er Ländereien auf dem Schönower Gebiet und gründete die Nervenheilanstalt Schweizerhof, eine private Heilanstalt für psychisch kranke Frauen.

Nach dem ersten Weltkrieg kam die unvollständige Sammlung nach München, erstmal in den Besitz der bayrischen Staatsbibliothek später in den der deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie, dem Vorgänger des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie. Der Krieg hatte seine Spuren hinterlassen: Laehrs Familie hatte einige Bücher versteigert, andere waren bei der Lagerung in Zehlendorf beschädigt worden „Nun war die wichtigste Aufgabe erstmal die Bestandserhaltung und die Restaurierung dieser Gelehrtenbibliothek.“ so Burgmair. „Das umfasst die richtige Aufbewahrung und die richtige Behandlung. Das Papier einer bestimmten Herstellungweise zum Beispiel Holzschliff oder alaungefällte Harzleimung wird brüchig. Solches Papier bricht, wenn man es kräftig anfasst, unter Umständen schon beim Umblättern in einem gebundenem Buch.“ Der Historiker hat sich in seiner dreijährigen Ausbildung zum Archivar das notwendige Spezialwissen angeeignet und weiß um die Schwierigkeiten der Bestandserhaltung. Seit fünf Jahren wird in dem Archiv, nach den Vorgaben des Instituts für Restaurierung an der bayrischen Staatsbibliothek, mit großer Sorgfalt daran gearbeitet den Nachlass Laehrs zu erhalten.

Das Archiv befindet sich im Keller des Instituts und sieht gar nicht so aus wie ich es mir vorstellte. Der neu eingerichtete, helle Raum hat Fenster, weiße Wände und ist angenehm warm. Im Sommer wird, um einer Schimmelbildung vorzubeugen, eine Entfeuchtungsanlage eingeschaltet. „Besonders Leder ist da sehr gefährdet“, erläutert Burgmair. Die Sammlung enthält Bücher mit Einbänden aus verschiedenen Materialien: Großfoliobände mit lederüberzogenem Holzdeckeleinband, Pergament-und Franzeneinbände, dünne Dissertationsheftchen ohne Einband bis hin zu unaufgeschnittenen Druckbögen. „Bei geschädigten Einbänden helfen wir uns mit Jurismappen bzw. maßgeschneiderten oder normierten Schutzhüllen. Manche Bände werden auch in Elefantenpapier eingeschlagen, um den Einband zu fixieren.“

Isaac Newton's persönliches Exemplar der ersten Auflage seines Buches Philosophiae Naturalis Principia Mathematica. Es enthält seine handschriftlichen Korrekturen für die 20.Auflage. Bei der ersten Auflage war Samuel Pepys, der damalige Präsident der Royal Society, Herausgeber. Bei der 2.Auflage war bereits Newton selbst der Präsident der Royal Society. Dieses Exemplar kann man sich auf der Website der Digitalen Bibliothek der Universität Cambridge anschauen.

Isaac Newton's persönliches Exemplar der ersten Auflage seines Buches Philosophiae Naturalis Principia Mathematica. Es enthält seine handschriftlichen Korrekturen für die 20.Auflage. Bei der ersten Auflage war Samuel Pepys, der damalige Präsident der Royal Society, Herausgeber. Bei der 2.Auflage war bereits Newton selbst der Präsident der Royal Society. Dieses Exemplar kann man sich auf der Website der Digitalen Bibliothek der Universität Cambridge anschauen.

1857 übernahm Laehr die Hauptredaktion der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie und war durch seine Arbeit bereits international bekannt. Er war 1860 Mitbegründer und Vorsitzender des psychiatrischen Vereins in Berlin. Begleitend zu seinem Engagement in psychiatrischen Fachverbänden sorgte sich Laehr um die Eingliederung psychisch Kanker in die Gesellschaft und war 1872 Mitbegründer des Hilfsvereins für entlassene Geisteskranke der Provinz Brandenburg. Im gleichen Jahr veröffentlichte er sein Buch „Über Irrsein und Irrenanstalten. Für Ärzte und Laien. Nebst einer Uebersicht über Deutschlands Irrwesen und Irrenanstalten, erläutert durch eine colorirte Karte“.

Laehrs Privatbibliothek umfasst circa 3500 Bücher, eine Menge Material, das gesichtet und geordnet werden muss. Keine einfache Aufgabe: „Es gibt Leute, die schütten Dir einfach alles auf den Tisch und sagen: Jetzt mach mal!“ erzählt Burgmair im ernsten Tonfall. Er arbeitet seit 1992 für das Archiv und hat so seine Erfahrungen gemacht. „Jedes Buch muss erstmal gelesen werden und danach geht man daran sich eine inhaltliche Struktur zu überlegen, die für den Nutzer nachvollziehbar ist. Das ist die Grundlage jedes Archivs und nur so kann es seinen Aufgaben nachkommen.“ Ich spüre Burgmairs Begeisterung für den Beruf. Das Archiv in München-Schwabing ist seit 1991 Außenstelle des Archivs der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin-Dahlem und unterstützt seine Besucher darin Wissenschaftsgeschichte zu erforschen. Es stellt Dokumente und Auskünfte für fremde Wissenschaftler bereit und arbeitet intern als Gedächtnis der Max-Planck-Gesellschaft. Es berät den Präsidenten, die Generalverwaltung und vor allem die Institute im Umgang mit ihrer Geschichte. Es forscht selber vorzugsweise in der Personen- und Institutsgeschichte der Kaiser-Wilhelm- und Max-Planck-Gesellschaft.

„Es gibt X-Geschichten“ sagt Burgmair und weist aus aktuellem Anlass auf eine wissenschaftliche Randnotiz hin, von der die Meisten gar nicht wissen. Emil Kraepelin, der Gründer der deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie, führte den Begriff Amoklauf in den deutschen Sprachgebrauch ein. Kraepelin war zu einem Forschungsaufenthalt in Java, Indonesien gewesen und hatte dort aus dem Indonesischen den Begriff Amok übernommen. Er bezeichnet einen Rauschzustand in dem der Betroffene in vermeintlich blinder Wut den Feind angreift und wahllos, ohne jede Rücksicht auf Gefahren versucht, ihn sowie alle im Weg stehenden Personen zu töten.

1891 wurde Laehr in Berlin Professor und gab 1900 drei Bände mit dem Titel “Die Literatur der Psychiatrie, Neurologie und Psychologie von 1459-1799“ heraus. Nachdem er aus dem Berufsleben ausschied, sein ältester Sohn hatte inzwischen die Leitung des Schweizer Hofs übernommen, sammelte Laehr weiter fleißig Fachliteratur. „Selten hat ein Mann im Greisenalter so geschafft und gearbeitet, kaum wohl je einer bis in die Patriarchenjahre hinein mit solcher Antheilnahme an seiner Wissenschaft gehangen. Die Liebe zur Psychiatrie und die Förderung ihrer Entwickelung nach jeder Richtung erfüllte in der That sein ganzes Leben“, so sein langjähriger Freund und Kollege Karl Moell.

Dank Laehr ist das Archiv heute im Besitz einer kostbaren Rarität. Es gibt in Deutschland nur wenige wissenschaftshistorische Sammlungen, die sich auf einen bestimmten Fachbereich konzentrieren. Beim Studium der Quellen wird Burgmair vor allem eines bewusst: „Früher war das Buch auch Arbeitsmittel nicht nur Wissensspeicher. Davon zeugen die breiten Buchränder, die nicht selten die handschriftlichen Anmerkungen der Buchbesitzer enthalten.“ Diese Kommentare können von großer wissenschaftlicher Bedeutung sein. Ich denke dabei z.B. an die Fermatsche Vermutung: 1637 schrieb Fermat bei der Lektüre der Arithmetica von Diophantos neben den Satz des Pythagoras folgende Zeilen als Randbemerkung in sein Exemplar des Buches:

“Es ist unmöglich, einen Kubus in zwei Kuben zu teilen oder ein Biquadrat in zwei Biquadrate oder irgendeine Potenz in zwei Potenzen gleichen Grades: Ich habe hierfür einen wahrhaft wunderbaren Beweis entdeckt, aber der Rand ist zu klein, ihn zu fassen.”

Die Fermatsche Vermutung entwickelte sich zum Albtraum für viele Mathematiker. Jahrhundertelang konnte sie niemand beweisen oder widerlegen. Weil aber gerade Fermat selbst die Ansicht vertreten hatte, dass er einen wunderbaren Beweis gefunden habe, versuchten sich Generationen von Mathematikern, darunter auch die bedeutendsten ihrer Zeit, an dem Beweis. Erst 1994 gelang dem Mathematiker Andrew Wiles der Beweis.

Nachdenklich schließt Burgmair das Buch über die Arbeiten des Paracelsus und stellt es vorsichtig an seinen Platz zurück. Lautlos gleitet die Glasscheibe in der Metallschiene und verschließt die wertvollen Schriften. Das digitale Zeitaler hat auch vor dem Archivwesen nicht Halt gemacht, dennoch hat die Welt der Bücher nichts von ihrem Reiz verloren. Wer denkt da nicht an Rilkes Gedicht Der Leser „welcher sein Gesicht wegsenkte aus dem Sein zu einem zweiten, das nur das schnelle Wenden voller Seiten manchmal gewaltsam unterbricht...“, der „mühsam aufsah: alles auf sich hebend, was unten in dem Buche sich verhielt, mit Augen, welche, statt zu nehmen, gebend anstießen an die fertig-volle Welt..“

Anmerkung: Dieser Blogartikel bezieht sich auf meinen Besuch der Heinrich-Laehr-Stiftungsbibliothek im Frühjahr 2009.

Bildnachweis

Fotograf: Andrew Dunn
Datum: 5 November 2004.
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Quelle: Wikimedia Commons

Als sich die Amphibien auf die Beine machten

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Evo-Devo rockt! Evo-Devo ist ein aus den USA stammender Jargon für die Forschung an der Schnittstelle von Ontogenese und Phylogenese, also der Biologie der Individualentwicklung und der Evolutionsbiologie. Evo-Devo steht dabei als Kurzwort für „evolutionary developmental biology“, die evolutionäre Entwicklungsbiologie. Vor einiger Zeit publizierten in diesem Fachgebiet Paläontologen des Museums für Naturkunde Berlin und des Leibniz-Instituts für Evolutions- und Biodiversitätsforschung einen sehr interessanten Artikel über Amphibien in Nature [1].
Amphibien stammen von frühen Quastenflossern ab und entwickelten sich vor 360 Millionen Jahren. Sie waren die ersten Wirbeltiere, die an Land gingen und entwickelten im Laufe der Zeit aus muskulären, gelenkig gegliederten Flossen vier Laufbeine.

Abb.1: Evolution der Gließmaßen von den Fischen zu den Amphibien Bei diesem Übergang von Fischen zu Vierbeinern müssen tief greifende Veränderungen erfolgt sein, die u. a. das Tragen des Körpers (die Kräfteverhältnisse sind auf dem Land ganz anders als im Wasser) und die Fortbewegungsweise (Extremitäten mit neuer Funktion: die Fortbewegung steht statt der Steuerung im Vordergrund) betreffen.

Abb.1: Evolution der Gließmaßen von den Fischen zu den Amphibien Bei diesem Übergang von Fischen zu Vierbeinern müssen tief greifende Veränderungen erfolgt sein, die u. a. das Tragen des Körpers (die Kräfteverhältnisse sind auf dem Land ganz anders als im Wasser) und die Fortbewegungsweise (Extremitäten mit neuer Funktion: die Fortbewegung steht statt der Steuerung im Vordergrund) betreffen.

Diese Laufbeine begründen den Oberbegriff Tetrapoden (Vierbeiner) für die landlebenden Wirbeltierklassen Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugetiere. Auch wenn sich bei manchen Tetrapoden die Vorderbeine zu Armen und Flügeln umwandelten, ist der grundlegende Knochenbau dieser Gliedmaßen im Laufe der Evolution gleich geblieben.

Abb.2: Aufbau der Knochen des Vorderbeins bzw. Arms, Flügels, Flosse bei Wirbeltieren Der Oberarm- bzw. Oberschenkelknochen (Humerus bzw. Femur) ist mit dem Schultergürtel gelenkig verbunden, dann folgen ein Knochenpaar (Ulna und Radius bzw. Tibia und Fibula) sowie Hand- bzw. Fußwurzelknochen und Finger- bzw. Zehenknochen (Phalangen).

Abb.2: Aufbau der Knochen des Vorderbeins bzw. Arms, Flügels, Flosse bei Wirbeltieren Der Oberarm- bzw. Oberschenkelknochen (Humerus bzw. Femur) ist mit dem Schultergürtel gelenkig verbunden, dann folgen ein Knochenpaar (Ulna und Radius bzw. Tibia und Fibula) sowie Hand- bzw. Fußwurzelknochen und Finger- bzw. Zehenknochen (Phalangen).

Heute gibt es drei Ordnungen von Amphibien: Frösche und Kröten (Anura; Froschlurche); Salamander und Molche (Caudata; Schwanzlurche) und Blindwühlen (Gymnophiona), die von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen. Fast alle Amphibien machen im Laufe ihres Lebens eine sogenannte Metamorphose durch, was bedeutet, dass sich ihre Gestalt verändert. Einfaches Beispiel dafür ist der Frosch. Aus dem befruchteten Laich entwickelt sich zunächst die Larve, die sogenannte Kaulquappe. Diese wächst mit den Wochen und verwandelt sich in mehreren Schritten zu einem Frosch, dabei entwickeln sich auch die Beine. Mit Abschluss der Metamorphose ist aus der einstigen Larve ein erwachsenes Tier geworden. Die meisten Amphibien wechseln mit der abgeschlossenen Metamorphose auch den Lebensraum. Kaulquappen sind reine Wasserbewohner mit Kiemenatmung. Frösche atmen über ihre Lungen, die sich während der Metamorphose entwickeln.

Die Regeneration der Beine bei den Molchen

Unter den Wirbeltieren weisen die Salamander und Molche bei Weitem die größten Regenerationsfähigkeiten auf. Einige Biologen untersuchten dabei besonders die Regeneration der Beine bei den Molchen. G. Wolff (1910) wies die Abhängigkeit der Extremitätenregeneration von der Nervenversorgung nach. Forscher vermuteten, dass die Nervenendigungen (Synapsen) einen Mitose stimulierenden Faktor freisetzen. A.L. Mescher und D. Godspodarowicz (1979) isolierten eine solche Substanz, den Fibroblast Growth Factor. In einem eleganten Experiment mit Molchlarven konnte Günther Hertwig (1927) zeigen, dass das Material, aus dem sich das Beinregenerat aufbaut, aus der unmittelbaren Nachbarschaft der Amputationswunde stammen muss. Er transplantierte Beine einer haploiden Larve auf Beinstümpfe einer diploiden. Nach dem Anheilen amputierte er das Transplantat bis auf eine schmale Scheibe. Das Regenerat wies anschließend – mit Ausnahme eingewanderter Blutgefäßzellen – nur haploide Zellen auf. B. M. Carlson (1972) zeigte, dass das Beinregenerat eine normal entwickelte Muskulatur aufwies, wenn zuvor 99 % der Muskelzellen aus dem Amputationsstumpf entfernt worden waren. Es müssen also Nicht-Muskelzellen in der Lage sein, Muskulatur im Regenerat zu bilden. Borivoje Dim. Milojević (1924) transplantierte Regenerationsblasteme des Vorderbeins eines Molchs (Gattung Triturus) auf frisch amputierte Hinterbeine und umgekehrt. Waren die Transplantate jünger als 12 Tage, differenzierten sie sich ortsgemäß, waren sie älter, differenzierten sie sich herkunftsgemäß. Paul Weiss (1926) zeigte schließlich, dass auf einem längs halbierten Extremitätenstumpf ein vollständiges Regenerat entsteht. Die Regenerationsknospe zeigte also – so Paul Weiss – Eigenschaften eines „harmonisch-äquipotentiellen Systems“.

Woher "weiß" der gerade nachwachsende Abschnitt eines Glieds, wie viel von dem Ganzen verloren gegangen und nun zu ersetzen ist? Warum bildet die Haut keine Narbe, die den Stumpf definitiv versiegelt? Anscheinend handelt es sich bei der Regeneration eines Beins praktisch um die Rekapitulation eines larvalen Prozesses. Demnach sollte beiden Vorgängen das gleiche genetische Programm zugrunde liegen. Wie kann ein Molch so spät noch auf dieses larvale Programm zurückgreifen, um ein Bein immer wieder von Grund auf neu entstehen zu lassen? Wird dieses larvale Programm durch Hox-Gene gesteuert? Hox-Gene steuern die Verteilung bestimmter Zellgruppen in einem bestimmten Areal des Körpers während der Embryonalentwicklung und sind als Hauptschalter für die Realisierung der Baupläne aller Tiere zuständig. Die Besonderheit der Hox-Gene ist die Tatsache, dass von ihnen mehrere andere, funktionell zusammenhängende Gene im Verlauf der Embryonalentwicklung bzw. Morphogenese gesteuert werden. Man kann Hox-Gene als übergeordnete genetische Informationsstruktur ansehen, da sie die Entwicklung nicht direkt, sondern durch Regulation anderer Gene steuern. Mutationen in Hox-Genen sind meist tödlich oder haben gravierende Auswirkungen auf die Entwicklung.

Für die kambrische Artenexplosion war nach Stephen Jay Gould die Evolution der Hox-Gene zumindest mitverantwortlich. Dies wäre eine mögliche Erklärung für die rasche Entwicklung neuer Arten in einer kurzen Epoche. Nach der Hox-Gen-These könnte sich in einem primitiven Wesen mit einem Ur-Hox-Gen, das sich zufällig einmal verdoppelt, ein Organismus mit neu erworbenen Eigenschaften entwickeln. Ein Indiz, das diese These unterstützt, ist die Polydaktylie. Menschen mit Polydaktylie verfügen über mehr als die übliche Anzahl an Fingern oder Zehen. Besonders häufig findet sich ein- oder beidseitig ein jeweils sechster Finger (meist ein Doppeldaumen) oder Zeh (Hexadaktylie). Da polydaktyle Finger oder Zehen kein homologes Merkmal besitzen, das heißt, da an der Stelle eines neuen Fingers beim Wildtyp weder Zellen noch Gewebe existieren, kann ein polydaktyler Finger oder Zeh - evolutionsbiologisch gesehen - auch als eine komplette phänotypische Innovation betrachtet werden.

Salamander haben ein ungewöhnlich hohes Regenerationsvermögen und können wiederholt und während ihres ganzen Lebens durch Amputationen oder Verletzungen verlorene Beine und Schwänze vollständig regenerieren. Bei Kröten und Fröschen – gelingt dies nur als Kaulquappe also im Larvenstadium.

YouTube-Video: Die Regeneration des Beines nach Amputation beim Salamander

Generell unterscheiden sich allerdings Salamander nicht nur in dem Regenerationsvermögen ihrer Beine von anderen Landwirbeltieren, sondern auch darin, wie sich ihre Beine zu Beginn bilden. Salamander bilden ihre Finger in der umgekehrten Reihenfolge wie alle anderen Tetrapoden, ein Phänomen, was Biologen schon seit über hundert Jahren Rätsel aufgibt. Die Frage, die sich nun stellte, war, ob dieser andersartige Weg der Beinentwicklung und das hohe Regenerationsvermögen evolutiv miteinander zusammenhängen.

Beinentwicklung und Schwanzregeneration bei den Tetrapoden des Oberen Karbon und Unteren Perm 

Eine Arbeit von Nadia B. Fröbisch, Constanze Bickelmann, Jennifer C. Olori und Florian Witzmann gab die Antwort: Nein. Sie widerlegten diesen Zusammenhang in einer Studie an verschiedenen Fossilien von Tetrapoden, die vor 300 Millionen Jahren lebten [1]. Die Fossilien stammen aus Sammlungen verschiedener Naturkundemuseen und fossilisierten unter sehr guten Erhaltungsbedingungen. Zusätzlich enthielten diese Sammlungen eine große Anzahl von Individuen aus verschiedenen Entwicklungsstadien.

Die Wissenschaftler verglichen bei Sclerocephalus, Apateon, Micromelerpeton, Microbrachis und Hyloplesion die Reihenfolge der Verknöcherung der Gliedmaßen in verschiedenen Larvenstadien und konnten so Rückschlüsse auf die damalige Beinentwicklung ziehen. In Fossilmaterial von Microbrachis und Hyloplesion fanden sie starke Hinweise auf die Regenerierung der knöchernen Schwanzwirbel, die begleitet wurde von einer Differenzierung der Zellen in der Nachbarschaft dieser Wirbel. Sie folgerten daraus, dass Microbrachis und Hyloplesion in der Lage waren ihren Schwanz zu regenerieren.

Die Forscher zeigten, dass in den Erdzeitaltern des Oberen Karbon und Unteren Perm verschiedene Gruppen von Tetrapoden in der Lage waren, ihre Beine wie der heutige Salamander zu regenerieren. Sie konnten diese Regenerationsfähigkeit sowohl bei fossilen Gruppen nachweisen, die ihre Beine wie die Mehrheit der heute lebenden Tetrapoden entwickeln, als auch bei solchen, die ein umgekehrtes Muster der Beinentwicklung wie beim heutigen Salamander aufweisen. Die hohe Regenerationsfähigkeit ist also vermutlich eine ursprüngliche Fähigkeit, die im Laufe der Evolution der verschiedenen Tetrapoden mindestens einmal, möglicherweise aber auch mehrfach unabhängig voneinander verloren ging, darunter auch in der Linie zu den Säugetieren.

Abb.3: Querzahnmolch Axolotl (Ambystoma mexicanum)

Abb.3: Querzahnmolch Axolotl (Ambystoma mexicanum)

Heute ist der Querzahnmolch Axolotl (Ambystoma mexicanum) der Weltmeister der Bein-Regeneration. Ich vermute, dass die Ursache für seine sehr hohe Regenerationsfähigkeit seine Neotenie ist. Neotenie bezeichnet in der Zoologie den Eintritt der Geschlechtsreife im Larvenzustand ohne Metamorphose. Axolotl verbleibt zeitlebens im kiemenatmenden Larvenstadium und lebt daher nur im Wasser. Zusätzlich ist er in der Lage sich zu fortzupflanzen. Diese Neotenie wird durch eine angeborene Unterfunktion der Schilddrüse verursacht, d.h. sie produziert nicht genügend für die Metamorphose notwendige Hormone (Thyroxin, Trijodthyronin oder Thyroidea) bzw. das normal hervorgebrachte Hormon wird nicht in die Blutbahn ausgeschüttet.

Ein Molchmodell für Sympodie

Als Anhänger der evolutionären Medizin hoffe ich, dass die Arbeiten von Fröbisch et al. und anderen Wissenschaftlern eines Tages helfen werden ein Molchmodell für Sympodie zu entwickeln. Sympodie oder Meerjungfrauensyndrom ist eine sehr seltene Entwicklungsstörung beim Menschen, bei der die Beine ab dem Becken abwärts zusammengewachsen sind. Der Pathologe August Förster hat 1865 drei Varianten unterschiedlichen Schweregrads beschrieben. In leichteren Fällen sind die Beine zwar angelegt, aber miteinander verschmolzen; in schweren Fällen sind die Unterschenkel - oder die gesamten Beine - nur rudimentär vorhanden. Fast immer bestehen gleichzeitig weitere Fehlbildungen der Arme und der inneren Organe, wie das Fehlen der Niere auf einer Seite oder beiden Seiten. Die Kinder sind daher selten lebensfähig. 70 % der Feten werden tot geboren, die übrigen sterben kurz nach der Geburt.

Die Regeneration der Beine bei den Molchen ist ein gut untersuchtes Modellsystem, das bereits seit mehr als 90 Jahren erforscht wird. Eine freischwimmende Larve, die ihre Beine entwickelt lässt sich leichter beobachten als z. B. ein Mausfötus im Mutterleib. Die Larven sind klein und lassen sich in großer Anzahl halten. Axolotl hat zusätzlich den Vorteil, das es sein ganzes Leben im Larvenstadium verbringt. Leider ist das Axolotlgenom zehn Mal größer als das menschliche Genom und noch nicht sequenziert. Eine Arbeitsgruppe hat aber bereits mit dem CRISPR-Cas9-System zielgerichtete Mutationen in das Axolotlgenom eingeführt [2]. Einiges ist also bereits geschafft auf dem Weg zu einem Molchmodell aber es liegt vor allem auf der genetischen Seite noch viel Arbeit vor uns.

Weiterführende Literatur

[1] Nadia B. Fröbisch, Constanze Bickelmann, Jennifer C. Olori & Florian Witzmann (2015) Deep-time evolution of regeneration and preaxial polarity in tetrapod limb development Nature 527, 231–234.

[2] G. Parker Flowers, Andrew T. Timberlake, Kaitlin C. Mclean, James R. Monaghan and Craig M. Crews (2014) Highly efficient targeted mutagenesis in axolotl using Cas9 RNA-guided nuclease Development, 141, 2165-2171.

Bildnachweis

Abb.2:  Aufbau der Knochen des Vorderbeins bzw. Arms, Flügels, Flosse bei Wirbeltieren

Image credit: This image was created by the University of California Museum of Paleontology's Understanding Evolution (http://evolution.berkeley.edu).

Abb.3: Querzahnmolch Axolotl (Ambystoma mexicanum)

Autor: Faldrian
Datum: 5 Juni 2013

Titel: Axolotl in der biologischen Lehrsammlung der de:Universität Konstanz.
Quelle:     https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Axolotl_Uni_Konstanz.JPG
Lizenz: This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported license.

500 Jahre Utopia: Das Verhältnis zwischen Staat und Individuum

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Vor 500 Jahren veröffentlichte der Londoner Thomas Morus sein Buch über den erfundenen Inselstaat Utopia. Ein Buch, das so prägend in der Staats- und Gesellschaftstheorie wurde, dass man fortan jeden Roman, in dem eine erfundene, positive Gesellschaft dargestellt wird, als Utopie bezeichnete. „Positiv“ aus der Sicht des Verfassers, der in Utopia seine Absicht wie folgt beschrieb:

Ich habe euch so wahrheitsgemäß wie möglich die Form dieses Staates beschrieben, den ich bestimmt nicht nur für den besten, sondern auch für den einzigen halte, der mit vollem Recht die Bezeichnung »Gemeinwesen« für sich beanspruchen darf. Wenn man nämlich anderswo von Gemeinwohl spricht, hat man überall nur sein persönliches Wohl im Auge; hier, in Utopien, dagegen, wo es kein Privateigentum gibt, kümmert man sich ernstlich nur um das Interesse der Allgemeinheit, und beide Male geschieht es mit Fug und Recht

Utopia, Ambrosii Holbenii imago ligno incisa, 1518

Utopia, Ambrosii Holbenii imago ligno incisa, 1518

Mir allerdings hat Morus‘ Utopia nicht gefallen. Es ist kein Staat, indem ich leben möchte. Einiges erinnerte mich zu sehr an Colonia Dignidad. Dennoch würde ich aus einem anderen Grund jedem die Lektüre dieses Buch empfehlen: Morus setzt sich mit vielen Aspekten des Gemeinwesens auseinander, die heute noch sehr kontrovers und emotional diskutiert werden und mit denen in verschiedenen Staaten der Welt verschieden umgegangen wurde und wird. Er begründet vieles und beschreibt nicht nur wie etwas sein soll.

Genug der Vorrede – Zeit für einige Schmankerl

Heiraten in Utopia

Das Weib heiratet nicht vor dem 18., der Mann aber erst nach erfülltem 22. Lebensjahre. Wenn ein Mann oder ein Weib vor der Ehe geheimen Geschlechtsverkehrs überführt wird, so trifft ihn oder sie strenge Strafe, und beide dürfen überhaupt nicht heiraten, es sei denn, daß der Bürgermeister Gnade für Recht ergehen läßt. Aber auch der Hausvater und die Hausmutter, in deren Hause die Schandtat begangen wurde, sind in hohem Maße übler Nachrede ausgesetzt, da sie, wie man meint, ihre Pflicht nicht gewissenhaft genug erfüllt haben. Die Utopier ahnden dieses Vergehen deshalb so streng, weil sich, wie sie voraussehen, nur selten zwei Leute zu ehelicher Gemeinschaft vereinigen würden, wenn man den zügellosen Geschlechtsverkehr nicht energisch unterbände; denn in der Ehe muß man sein ganzes Leben mit nur einer Person zusammen verbringen und außerdem so mancherlei Beschwernis geduldig mit in Kauf nehmen.

Ferner beobachten sie bei der Auswahl der Ehegatten mit Ernst und Strenge einen Brauch, der uns jedoch höchst unschicklich und überaus lächerlich vorkam. Eine gesetzte, ehrbare Matrone zeigt nämlich dem Freier das Weib, sei es ein Mädchen oder eine Witwe, nackt; und ebenso zeigt anderseits ein sittsamer Mann den Freier nackt dem Mädchen. Diese Sitte fanden wir lächerlich, und wir tadelten sie als anstößig; die Utopier dagegen konnten sich nicht genug über die auffallende Torheit all der anderen Völker wundern. Wenn dort, so sagten sie, jemand ein Füllen kauft, wobei es sich nur um einige wenige Geldstücke handelt, ist er so vorsichtig, daß er sich trotz der fast völligen Nacktheit des Tieres nicht eher zum Kaufe entschließt, als bis der Sattel und alle Reitdecken abgenommen sind; denn unter diesen Hüllen könnte ja irgendeine schadhafte Stelle verborgen sein. Gilt es aber, eine Ehefrau auszuwählen, eine Angelegenheit, die Genuß oder Ekel fürs ganze Leben zur Folge hat, so geht man mit solcher Nachlässigkeit zu Werke, daß man das ganze Weib kaum nach einer Handbreit seines Körpers beurteilt. Man sieht sich nichts weiter als das Gesicht an – der übrige Körper ist ja von der Kleidung verhüllt –, und so bindet man sich an die Frau und setzt sich dabei der großen Gefahr aus, daß der Ehebund keinen rechten Halt hat, wenn später etwas Anstoß erregen sollte. Denn einerseits sind nicht alle Männer so klug, nur auf den Charakter zu sehen, anderseits aber ist auch in den Ehen kluger Männer Schönheit des Körpers eine nicht unwesentliche Zugabe zu den Vorzügen des Geistes. Auf jeden Fall aber können jene Kleiderhüllen eine Häßlichkeit verbergen, die so abstoßend wirkt, daß sie imstande ist, Herz und Sinn eines Mannes seiner Frau völlig zu entfremden, da eine körperliche Trennung nicht mehr möglich ist. Wenn nun solch ein häßliches Aussehen die Folge irgendeines Unglücksfalles erst nach der Heirat ist, so muß sich jedes in sein Schicksal fügen; dagegen ist durch gesetzliche Bestimmungen zu verhüten, daß jemand vor der Eheschließung einer Täuschung zum Opfer fällt.

Berufswahl in Utopia

Ein Gewerbe betreiben alle, Männer und Frauen ohne Unterschied: den Ackerbau, und auf ihn versteht sich jedermann. Von Jugend auf werden sie darin unterwiesen, zum Teil durch Unterricht in den Schulen, zum Teil auch auf den Feldern in der Nähe der Stadt, wohin man sie wie zu einem Spiele führt. Hier sehen sie der Arbeit nicht bloß zu, sondern üben sie auch aus und stärken bei dieser Gelegenheit zugleich ihre Körperkräfte.

Neben der Landwirtschaft, die, wie gesagt, alle betreiben, erlernt jeder noch irgendein Handwerk als seinen besonderen Beruf. Das ist in der Regel entweder die Tuchmacherei oder die Leineweberei oder das Maurer- oder das Zimmermanns- oder das Schmiedehandwerk. In keinem anderen Berufe nämlich ist dort eine nennenswerte Anzahl Menschen beschäftigt. Denn der Schnitt der Kleidung ist, abgesehen davon, daß sich die Geschlechter sowie die Ledigen und die Verheirateten in der Tracht voneinander unterscheiden, auf der ganzen Insel einheitlich und stets der gleiche in jedem Lebensalter, wohlgefällig fürs Auge, bequem für die Körperbewegung und vor allem für Kälte und Hitze berechnet. Diese Kleidung fertigt sich jede Familie selber an. Von den obenerwähnten anderen Gewerben aber erlernt jeder eins, und zwar nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen. Letztere jedoch, als die körperlich Schwächeren, üben nur die leichteren Gewerbe aus; in der Regel verarbeiten sie Wolle und Flachs; den Männern weist man die übrigen, mühsameren Beschäftigungen zu. Meistenteils erlernt jeder das väterliche Handwerk; denn dazu neigen die meisten von Natur. Hat aber jemand zu einem anderen Berufe Neigung, so nimmt ihn durch Adoption eine Familie auf, die dasjenige Gewerbe betreibt, zu dem er Lust hat. Dabei sorgen nicht nur sein Vater, sondern auch die Behörden dafür, daß er zu einem würdigen und ehrbaren Familienvater kommt. Ja, wenn jemand ein Handwerk gründlich erlernt hat und noch ein anderes dazu erlernen will, so ist ihm das auf demselben Wege möglich. Versteht er dann beide, so übt er aus, welches er will, es sei denn, daß die Stadt eins von beiden nötiger braucht.

Freizeit in Utopia

Über all die Zeit zwischen den Stunden der Arbeit, des Schlafes und des Essens darf ein jeder nach seinem Belieben verfügen, nicht etwa um sie durch Schwelgerei und Trägheit schlecht auszunützen, sondern um die arbeitsfreie Zeit nach Herzenslust auf irgendeine andere Beschäftigung nutzbringend zu verwenden. Die meisten treiben in diesen Pausen literarische Studien. Es herrscht nämlich der Brauch, täglich in den frühen Morgenstunden öffentliche Vorlesungen zu halten; zu ihrem Besuche sind diejenigen verpflichtet, die zu wissenschaftlicher Arbeit namentlich ausgewählt sind. Aus jedem Stande aber strömt eine gewaltige Menge Hörer, Männer wie Frauen, zu den Vorlesungen, die einen zu diesen, die anderen zu jenen, je nach ihren persönlichen Neigungen. Wenn jedoch einer auch diese Zeit lieber auf seine berufliche Tätigkeit verwenden will, was bei vielen der Fall ist, deren Geist sich nicht zur Höhe wissenschaftlicher Betrachtung erhebt, so hindert man ihn nicht daran; er erntet vielmehr sogar noch Lob, weil er sich dem Staate nützlich macht.

Religionsfreiheit in Utopia

Als er dann den Sieg errungen hatte, setzte er Religionsfreiheit für jedermann fest und bestimmte außerdem, wenn jemand auch andere zu seinem Glauben bekehren wolle, so dürfe er es nur in der Weise betreiben, daß er seine Ansicht ruhig und bescheiden auf Vernunftgründen aufbaue, die anderen aber nicht mit bitteren Worten zerpflücke. Gelinge es ihm nicht, durch Zureden zu überzeugen, so solle er keinerlei Gewalt anwenden und sich nicht zu Schimpfworten hinreißen lassen. Geht aber jemand in dieser Sache zu ungestüm vor, so bestrafen ihn die Utopier mit Verbannung oder Sklavendienst. Diese Bestimmung traf Utopus nicht bloß im Interesse des Friedens, den, wie er sah, beständiger Kampf und unversöhnlicher Haß von Grund aus zerstörten, sondern weil er der Ansicht war, damit sei auch der Religion gedient. Er wagte es auch nicht, über die Religion so ohne weiteres eine Entscheidung zu treffen, gleichsam in Ungewißheit darüber, ob Gott nicht doch einen mannigfaltigen und vielseitigen Kult haben wolle und deshalb die einzelnen auf verschiedene Weise inspiriere. Jedenfalls hielt er es für eine Anmaßung und Torheit, wenn jemand mit Gewalt und Drohungen verlangte, daß alle seine persönliche Ansicht über die Wahrheit teilten. Sollte aber wirklich nur einer Religion die meiste Wahrheit zukommen und sollten alle anderen wertlos sein, so würde sich dann schließlich einmal, das sah Utopus sicher voraus, die Macht der Wahrheit schon von selbst Bahn brechen und sich deutlich offenbaren, wenn man ihre Sache nur mit Vernunft und Mäßigung betreibe. Kämpfe man aber mit Waffen und Aufruhr um die Religion, so werde die beste und erhabenste zwischen den nichtigsten Wahnvorstellungen der Streitenden erstickt werden wie die Saaten zwischen Dornen und Gestrüpp, da gerade die schlechtesten Menschen am hartnäckigsten seien. Daher ließ Utopus diese ganze Frage unentschieden und stellte es einem jeden anheim, was er glauben wollte. Nur sollte niemand, das gebot er feierlich und streng, die Würde der menschlichen Natur so weit vergessen, daß er annehme, die Seele gehe zugleich mit dem Körper zugrunde oder im Laufe der Welt walte der blinde Zufall und nicht die göttliche Vorsehung.

Reisen in Utopia

Wer das Verlangen haben sollte, seine Freunde in einer anderen Stadt zu besuchen oder sich auch nur den Ort selbst anzusehen, erhält von seinem Syphogranten und Traniboren mit Leichtigkeit die Erlaubnis dazu, wenn er irgendwie abkömmlich ist. Man schickt dann eine gewisse Anzahl Urlauber zusammen ab und gibt ihnen ein Schreiben des Bürgermeisters mit, in dem die Reisegenehmigung bestätigt und der Tag der Rückkehr vorgeschrieben ist. Die Reisenden bekommen einen Wagen mit einem staatlichen Sklaven gestellt, der das Ochsengespann führen und besorgen muß; wenn sie aber nicht gerade Frauen bei sich haben, weisen sie den Wagen als lästig und hinderlich zurück. Obgleich sie auf der ganzen Reise nichts mit sich führen, fehlt es ihnen doch an nichts; sie sind ja überall zu Hause. Sollten sie sich irgendwo länger als einen Tag aufhalten, so übt jeder daselbst sein Gewerbe aus und wird von seinen Handwerksgenossen aufs freundlichste behandelt.

Wenn sich aber jemand außerhalb seines Wohnbezirks eigenmächtig herumtreiben und ohne amtlichen Urlaubsschein aufgegriffen werden sollte, so betrachtet man ihn als Ausreißer, bringt ihn mit Schimpf und Schande in die Stadt zurück und züchtigt ihn streng; im Wiederholungsfalle büßt er mit dem Verlust seiner Freiheit. Wenn aber jemanden die Lust anwandeln sollte, auf seinen heimatlichen Fluren spazierenzugehen, so hindert ihn niemand daran, vorausgesetzt, daß er die Erlaubnis seines Hausvaters und die Einwilligung seiner Frau hat. Wohin er aber auch aufs Land kommt, nirgends gibt man ihm etwas zu essen, ehe er nicht das dort vor dem Mittags- oder Abendessen übliche Arbeitspensum erledigt hat; unter dieser Bedingung kann er ganz nach Belieben innerhalb des Gebietes seiner Stadt spazierengehen. Wird er sich doch auf diese Weise der Stadt ebenso nützlich machen, als wenn er sich in ihr selber aufhielte.

Ihr seht schon, in Utopien gibt es nirgends eine Möglichkeit zum Müßiggang oder einen Vorwand zur Trägheit. Keine Weinschenken, keine Bierhäuser, nirgends ein Bordell, keine Gelegenheit zur Verführung, keine Schlupfwinkel, keine Stätten der Liederlichkeit; jeder ist vielmehr den Blicken der Allgemeinheit ausgesetzt, die ihn entweder zur gewohnten Arbeit zwingt oder ihm nur ein ehrbares Vergnügen gestattet.

Steuerung der Bevölkerungsentwicklung in Utopia

Um aber eine zu starke Abnahme oder eine übermäßig große Zunahme der Bevölkerung zu verhindern, darf keine Familie, deren es in jeder Stadt – die in dem zugehörigen Landbezirk nicht mitgerechnet – 6000 gibt, weniger als zehn und mehr als sechzehn Erwachsene haben; die Zahl der Kinder kann man ja nicht im voraus festsetzen. Diese Bestimmung läßt sich mit Leichtigkeit aufrechterhalten, indem man die überzähligen Mitglieder der übergroßen Familien in zu kleine versetzt.

Sollte aber einmal eine ganze Stadt mehr Einwohner haben, als sie haben darf, so füllt man mit dem Überschuß die Einwohnerzahl geringer bevölkerter Städte des Landes auf. Wenn aber etwa die Menschenmasse der ganzen Insel mehr als billig anschwellen sollte, so bestimmt man aus jeder Stadt ohne Ausnahme Bürger, die auf dem nächstgelegenen Festlande überall da, wo viel überflüssiges Ackerland der Eingeborenen brachliegt, eine Kolonie nach ihren heimischen Gesetzen einrichten unter Hinzuziehung der Einwohner des Landes, falls sie mit ihnen zusammenleben wollen. Mit diesen zu gleicher Lebensweise und zu gleichen Sitten vereint, verwachsen sie dann leicht miteinander, und das ist für beide Völker von Vorteil. Sie erreichen es nämlich durch ihre Einrichtungen, daß ein Land, das vorher dem einen Volke zu klein und unergiebig erschien, jetzt für beide Völker mehr als genug hervorbringt. Diejenigen Eingeborenen aber, die es ablehnen, nach den Gesetzen der Kolonisten zu leben, vertreiben diese aus dem Gebiet, das sie selber für sich in Anspruch nehmen, und gegen die, die Widerstand leisten, greifen sie zu den Waffen. Denn das ist nach Ansicht der Utopier der gerechteste Kriegsgrund, wenn irgendein Volk die Nutznießung und den Besitz eines Stückes Land, das es selbst nicht nutzt, sondern gleichsam zwecklos und unbebaut in Besitz hat, anderen untersagt, denen es nach dem Willen der Natur ihren Lebensunterhalt liefern soll. Wenn aber einmal infolge eines Unglücksfalles die Einwohnerzahl einiger ihrer Städte so sehr sinken sollte, daß sie aus anderen Teilen der Insel unter Wahrung der Größe einer jeden Stadt nicht wieder ergänzt werden kann – wie es heißt, ist das seit Menschengedenken nur zweimal infolge einer heftig wütenden Seuche der Fall gewesen –, so läßt man die Bürger aus der Kolonie zurückkommen und füllt mit ihnen die Einwohnerzahl der Städte wieder auf. Die Utopier sehen es nämlich lieber, daß ihre Kolonien eingehen, als daß die Einwohnerzahl einer der Städte ihrer Insel zurückgeht.

Weiterführende Literatur

Thomas Morus Utopia

 

 

Game of Insect Males

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Der amerikanische Fernsehsender HBO kündigte für den Start der sechsten Staffel von Game of Thrones (GoT) den 24. April an und zeigte bereits drei neue Teaser-Trailer. Zwar sehen die GoT-Fans darin keine Szenen aus den neuen Episoden, dennoch versprechen die kurzen Clips, dass auch in der neuen Staffel wieder spektakuläre Kämpfe um den Eisernen Thron von Westeros bevorstehen. Um die drei Wochen bis zum Staffelstart mit einem Blogartikel „aus dem Genre“ zu überbrücken, dachte ich mir: schreib doch mal darüber wie die Männchen bei promiskuitiven1 Insekten ihre Vaterschaft sichern. Denn genau wie die Adelsfamilien bei GoT verwenden diese Insektenmännchen Heimtücke, List und Intrigen um ihre Konkurrenten auszustechen. (GoT-Fans verweise ich nur auf die Eltern von Joffrey Baratheon).

Joffrey Baratheon, der König auf dem Eisernen Thron, gründete das Haus Baratheon von Königsmund. Als ältester Sohn und Nachkomme von König Robert und Königin Cersei stand ihm nach dem Recht von Westeros der Thron zu. Joffreys Wappen zeigt auf der linken Seite den Hirsch seines Vaters Robert Baratheon und auf der rechten Seite den Löwen seiner Mutter Cersei Lennister.

Abb.1: Joffrey Baratheon, der König auf dem Eisernen Thron, gründete das Haus Baratheon von Königsmund. Als ältester Sohn und Nachkomme von König Robert und Königin Cersei stand ihm nach dem Recht von Westeros der Thron zu. Joffreys Wappen zeigt auf der linken Seite den Hirsch seines Vaters Robert Baratheon und auf der rechten Seite den Löwen seiner Mutter Cersei Lennister.

Evolution der Anisogamie

Lange lange Zeit bevor Insekten die Erde bevölkerten waren männliche und weibliche Gameten einander in Form und Größe sehr ähnlich. Daher bezeichneten Fortpflanzungsbiologen diese Gameten als Isogameten. Durch disruptive Selektion wurden die männlichen Keimzellen kleiner, bekamen Geißeln und wurden beweglich, die weiblichen Keimzellen reicherten Zytoplasma an und wurden größer. Es kam zur Evolution der Anisogamie, deren Ursache Evolutionsbiologen darin sehen, dass mittelgroße Gameten zu groß waren um viele von Ihnen zu produzieren; dadurch wurde die Fruchtbarkeit der Männchen eingeschränkt: Sie waren aber auch zu klein um Embryogenese ohne zusätzliches Zytoplasma zu gestatten, dadurch wurde die Überlebensfähgkeit des Nachwuchs eingeschränkt. Es kam zu einer Arbeitsteilung: Während die Männchen viele sehr kleine Samenzellen erzeugten, produzierten die Weibchen nur wenige sehr große Eizellen, die genug Zytoplasma enthielten damit es der Nachwuchs bis zur Geburt schafft.

Männliche und weibliche Fortpflanzungsstrategien um die direkte Fitness zu erhöhren

Insekten investieren Zeit, Energie und Ressourcen für Paarungen und Brutpflege (Parental Investment). Der Return on Investment wird in überlebenden Nachkommen gemessen und als direkte Fitness bezeichnet. Durch die Anisogamie entstand für die Geschlechter eine Asymmetrie im Parental Investment für die Nachkommen: Da Weibchen meist nur wenige große Eizellen zur Befruchtung produzieren, investieren sie relativ viel pro Gamet. Ihre optimale Fortpflanzungsstrategie, um ihre direkte Fitness zu erhöhen, besteht darin, sich mit einem Männchen zu paaren, dessen Gene einen möglichst großen Beitrag zu der Überlebensfähigkeit ihrer gemeinsamen Nachkommen liefern (Partnerwahl, Inter-sexuelle Selektion).

Männchen produzieren mehrere Zehnerpotenzen mehr Samenzellen als Weibchen Eizellen. Sie investieren relativ wenig pro Gamet. Ihre optimale Fortpflanzungsstrategie, um ihre direkte Fitness zu erhöhen, besteht darin, sich mit so vielen Weibchen wie möglich zu paaren. Da die Anzahl der rezeptiven Weibchen aber begrenzt ist, konkurrieren die Männchen um die Weibchen (Männchen-Konkurrenz, Intra-sexuelle Selektion).

Eine wichtige Konsequenz dieser Asymmetrie ist, dass die Variation in der Zahl der Nachkommen bei den Männchen in der Regel grösser ist als bei den Weibchen – dieses Phänomen wird als Bateman’s Prinzip bezeichnet. Dabei ist zu beachten, dass sich zwar die Variation unterscheidet, aber beide Geschlechter im Mittel pro Kopf gleichviele Nachkommen hinterlassen. Das Geschlechterverhältnis in einer Population ist nur stabil, falls im Mittel beide Geschlechter gleichen Erfolg haben.

Um Missverständnissen vorzubeugen – was ich hier beschreibe ist nicht der Kampf der Geschlechter (engl. battle of sexes). Der Kampf der Geschlechter ist ein Problem aus der Spieltheorie2 und beschreibt ein Koordinationsspiel mit Verteilungskonflikt: Ein Paar will gemeinsam den Abend verbringen, vergisst aber, sich über den Ort zu einigen. Möglich ist entweder ein Fußballspiel oder ein Konzert. Mann und Frau müssen sich unabhängig voneinander entscheiden. Das Fußballspiel wird von dem Mann, das Konzert von der Frau bevorzugt. Das Problem dieses Spiels ist nun, dass es keine dominanten Strategien gibt. Wenn die beiden Spieler gleichzeitig ihre Lieblingsalternative (Frau geht ins Konzert, Mann zum Fußball.) wählen, kommt es zu keinem Treffen, was für beide nicht optimal ist. Sie würden in diesem Fall doch lieber an den Ort gehen, den der jeweils andere bevorzugt – Hauptsache, sie sind zusammen. Wenn aber beide so denken und dem anderen entgegenkommen möchten, treffen sie sich wieder nicht.

Nach diesem kleinen Exkurs nun zurück zu den Insektenmännchen: Aus Partnerwahl und Männchen-Konkurrenz resultiert ein Selektionsdruck, der als sexuelle Selektion bezeichnet wird. Sie bevorzugt diejenigen Männchen, denen es gelingt, sich am effektivsten fortzupflanzen.

Sich zu paaren ist nicht schwer Vater werden dagegen sehr

Wenn sich zwei Insekten paaren, überträgt das Männchen Sperma in eine spezielle Samentasche des Weibchens, die Spermatheka. Wenn das Weibchen seine Eier ablegt, entläßt es jedesmal, sobald ein Ei den Zugang zur Spermatheka passiert, ein wenig Samenflüssigkeit und befruchtet so das Ei.  Für die Männchen von Arten, die sich mehr als einmal paaren, werfen diese anatomischen Tatsachen Probleme auf: Das Sperma, das vom Weibchen jeweils freigesetzt wird, stammt in der Regel von der letzten Paarung. Die sogenannte Spermienverdrängung funktioniert also generell nach dem Motto „Die Letzten werden die Ersten sein“ – eine unangenehme Sache für das betroffene Männchen. Es hat vielleicht erhebliche Zeit und Energie investiert, um ein Weibchen zu finden und zu umwerben, und doch wird das Sperma eines Männchen nach ihm die Eier seiner Partnerin befruchten. Doch viele Insektenmännchen haben Methoden entwickelt, um ihre Vaterschaft abzusichern.

Das Matron

Männchen vieler Mückenarten besitzen in ihrer Samenflüssigkeit einen Duftstoff, das sogenannte Matron, mit dem ihre Partnerin für andere Männchen unattraktiv wird. Sie verwenden also einen pheromonischen Keuschheitsgürtel.

Verschlusssache Eizelle

Bei dem Gelbbrandkäfer (Dytiscus marginalis) verschließen die Männchen die Geschlechtsöffnung des Weibchens mit einem undurchdringlichen geleeartigen „Paarungspfropf“. Das Weibchen kann sich erst dann wieder paaren, wenn sie den Pfropf durch Eiablage beseitigt hat.

Abb.1: Der Gelbbrandkäfer (Dytiscus marginalis) Links das Männchen, rechts das Weibchen

Abb.2: Der Gelbbrandkäfer (Dytiscus marginalis) links das Männchen, rechts das Weibchen

Spermienkonkurrenz im Körper des Weibchens

In den letzten Jahren fanden sich immer mehr Hinweise für eine intra-sexuelle Selektion, die nach der Paarung, im Körper des Weibchens stattfindet: Die Spermien der verschiedenen Männchen konkurrieren hier direkt um die Befruchtung der Eizellen. Spermienkonkurrenz ist eine Erweiterung der Männchen-Konkurrenz, da hier nicht Paarung mit Fortpflanzungserfolg gleichgesetzt wird, sondern berücksichtigt wird, daß ein Männchen, welches sich mit einem Weibchen verpaart hat, nicht notwendigerweise der Vater der Nachkommen ist.

Das Aufräumkommando

Auch wenn das Männchen verhindern kann, das andere Männchen unmittelbar nach ihm mit demselben Weibchen kopulieren, müssen sich seine Spermien noch gegen die Konkurrenz von Spermien aus früheren Paarungen des Weibchens durchsetzen. Bei vielen Libellenarten haben Männchen eine sehr spektakuläre Methode zum Ausschalten dieser Konkurrenz entwickelt: Sie räumen alte Spermien aus dem Receptaculum des Weibchens aus, bevor sie ihre eigenen Spermien übertragen. Das Kopulationsorgan (sekundärer Penis) männlicher Libellen ist für diese Aufgabe speziell modifiziert. Vor allem bei verschiedenen Kleinlibellen (Zygoptera) besitzt das Kopulationsorgan Haken, Bürsten und Vorsprünge, mithilfe derer Männchen die Spermien der Vorgänger weitgehend aus dem Receptaculum oder der Bursa copulatrix entfernen können. Da dieses Samenausräumen sehr effektiv ist sichert sich das Männchen seine Vaterschaft. Voraussetzung ist jedoch, dass das Weibchen mit seinem Samen zur Eiablage ohne weitere Paarung übergeht, denn die Eier werden erst direkt bei der Oviposition befruchtet. Bei vielen Libellenarten bewachen daher die Männchen die Weibchen bei der Eiablage.

Ein Männchen der Großen Pechlibelle (Ischnura elegans). Sie gehört zu den Kleinlibellen (Zygoptera).

Abb.3: Ein Männchen der Großen Pechlibelle (Ischnura elegans). Sie gehört zu den Kleinlibellen (Zygoptera).

Drücken Sie die Eject-Taste

Während der Kopulation stimulieren die Libellen-Männchen von Calopteryx haemorrhoidalis asturica mit Hilfe einer Genitalstruktur, dem Aedeagus, kutikuläre Platten im weiblichen Genitaltrakt, die mechanorezeptive Sensillen tragen. Diese Stimulation resultiert in einem Ausstoß von Samen von vorhergehenden Paarungen aus den weiblichen Samenspeicherorganen, den Spermatheken.

Prinzip Wasserwerfer

Wenn das Männchen eine große Menge an flüssigem Ejakulat unter Druck in das Receptaculum injiziert, können Spermien aus früheren Kopulationen aus dem Receptaculum herausgespült werden. Beim Kurzflügelkäfer (Aleochara curtula) deponiert das Männchen bei der Begattung ein Samenpaket (Spermatophore) im Receptaculum, das dort zu einem Schlauch auswächst und so bis zur Samentasche gelangt. Bevor sich die Spermien in dieses Gefäß ergießen, bläht sich der Samenschlauch zu einem Ballon auf, der eventuelle Spermienvorräte aus vorherigen Kopulationen verdrängt. Der Ballon platzt dann und entlässt die eigenen Spermien.

Kryptische Wahl

Es gibt auch eine inter-sexuelle Selektion, die nach der Paarung, im Körper des Weibchens stattfindet: die Kryptische Wahl (Cryptic Female Choice). Die kryptische Wahl ist eine Erweiterung der Partnerwahl, da hier nicht Paarung mit Vaterwahl gleichgesetzt wird. Unter dieser Bezeichnung versteht man Phänomene der differentiellen Befruchtung bzw. Entwicklung der Zygote, je nach Vaterschaft. Weibchen paaren sich mit mehreren Männchen, um dann später in Ruhe qualitativ hochwertige Spermien eines Top-Männchens für die Befruchtung auszuwählen und die minderwertige Gene eines Ungenügenden von ihren Eiern fernzuhalten. Ebenso können befruchtete Eier sich entwicklen oder abortiert werden und damit eine Auswahl unter verschiedenen Vätern bewirken. Die Mechanismen, mit denen die Kryptische Wahl umgesetzt wird, sind noch nicht verstanden.

Fußnoten

1. Promiskuität bedeutet, dass sowohl Männchen als auch Weibchen mit verschiedenen Paarungspartnern kopulieren.

2. Ein sehr interessanter Forschungszweig ist übrigens die Evolutionäre Spieltheorie: Sie erforscht evolutionärer Prozesse, Ausbreitung und Verteilung von Verhaltensmustern in Tierpopulationen durch natürliche Selektion, Ausbreitung von Infektionen, mit Methoden und Modellen der Spieltheorie.

Weiterführende Literatur

Parker, Geoffrey A. 1970. Sperm competition and its evolutionary consequences in the insects, Biological Reviews 45: 525–567.

A. Córdoba-Aguilar, E. Uhía and A. Cordero Rivera (2003). Sperm competition in Odonata (Insecta): the evolution of female sperm storage and rivals' sperm displacement. Journal of Zoology, 261, pp 381-398. doi:10.1017/S0952836903004357.

Bildnachweis

Abb.3: Ein Männchen der Großen Pechlibelle (Ischnura elegans). Sie gehört zu den Kleinlibellen (Zygoptera).
Autor: Soebe
Datum: 3.7.2005
Titel: A photo of Ischnura elegans
Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Male_of_Ischnura_elegans_III.jpg
Lizenz: This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported license.

Besorgte Bürger: Furcht als Mittel der Manipulation

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Die Mutter des vierjährigen Torst Teehofer erzählt ihm, der nicht schlafen will, abends die Geschichte vom Sandmann:

„Das ist ein böser Mann, der kommt zu den Kindern, wenn sie nicht zu Bett gehn wollen und wirft ihnen Händevoll Sand in die Augen, daß sie blutig zum Kopf herausspringen, die wirft er dann in den Sack und trägt sie in den Halbmond zur Atzung für seine Kinderchen; die sitzen dort im Nest und haben krumme Schnäbel, wie die Eulen, damit picken sie der unartigen Menschenkindlein Augen auf.“

Was diese Grausamkeiten in dem kleinen Jungen auslösten, beschreibt der nun erwachsene Torst wie folgt:

„Gräßlich malte sich nun im Innern mir das Bild des grausamen Sandmanns aus; so wie es Abends die Treppe heraufpolterte, zitterte ich vor Angst und Entsetzen. Nichts als den unter Tränen hergestotterten Ruf: der Sandmann! der Sandmann! konnte die Mutter aus mir herausbringen. Ich lief darauf in das Schlafzimmer, und wohl die ganze Nacht über quälte mich die fürchterliche Erscheinung des Sandmanns“

Der Sandmann ist eine Kinderschreckfigur, sie ist nicht real. Ließe sich Torsts Furcht nicht ganz einfach beseitigen, indem seine Mutter dem Jungen die Wahrheit erzählt? Wir können uns vor etwas fürchten, das in Wahrheit nicht existiert. Es scheint jedoch so zu sein, als müssen wir zumindest glauben, dass es existiert.  Halt! So einfach ist es nicht.

Wir fürchten uns vor Freddy Krueger, einem erfundenen Filmbösewicht. Solange wir in dem Film versunken sind, glauben wir vorübergehend an die Existenz dieser fiktiven Figur. Im allgemeinen wissen wir jedoch, dass wir im Kino sitzen und einen Film schauen. In der Tat sprechen wir von einer „Aussetzung des Unglaubens“, wenn wir uns in eine Fiktion vertiefen, und wenn diese genuine wäre, wie vielleicht beim Träumen, so würde diese Paradoxie der Fiktion verschwinden. Bedeutet das, dass unsere Furcht widersprüchlich oder inkohärent ist?

„Pauke Fretry meldet sich bei der Polizei. Sie wolle Anzeige gegen ihren Nachbarn Hans Richter erstatten. Bereits seit einem halben Jahr verschaffe er sich immer wieder heimlich Zugang zu ihrer Wohnung und stehle dort Tassen aus ihrem Küchenschrank, um sie einzuschüchtern. Sie habe nun nicht mehr alle Tassen im Schrank, weil sie einige, um sie vor Diebstahl zu schützen, ins Schlafzimmer unter das Bett gestellt hat. Sie müsse sich vor diesem Mann sehr in Acht nehmen, schließlich habe er über seinen Sohn Thomas, der beim Verfassungsschutz arbeitet, direkte Kontakte zum Bundesnachrichtendienst, von dem sie inzwischen auch beschattet werde. Kürzlich hatte sie in ihrer Jackentasche einen Kugelschreiber gefunden, der nicht ihr gehöre. Da er sich nicht hat aufschrauben lassen, könne sich darin nur ein GPS-Sender befinden, der einem Überwachungssatelliten ihre genaue Position mitteile“

Pauke Fretry leidet unter Verfolgungswahn und fürchtet sich vor ihrem Nachbarn, der im Gegensatz zum Sandmann eine reale Person ist. Sie hat das Gefühl, von ihm beobachtet ausspioniert, verfolgt und drangsaliert zu werden. Pauke Fretry hat keine spezifische Phobie. In dem Fall würde sie den Nachbarn meiden und wüsste gleichzeitig, dass ihre Furcht übertrieben ist und in Wirklichkeit keine Gefahr besteht.

„Furcht ist der Pfad zur dunklen Seite. Furcht führt zu Wut…Wut führt zu Hass… Hass führt zu unsäglichem Leid."
Yoda

Torheit der Furcht, ein Gemälde von Francisco José de Goya y Lucientes (1746-1828) aus dem Zyklus Los Disparates (Torheiten). Man sieht Soldaten in panischer Flucht vor einer monumentalen Kapuzengestalt davoneilen. Mit dieser Figur, die sich erst auf den zweiten Blick als Attrape erweist - denn ihr Auftritt wird offenbar von jener grinsenden Figur, die aus einer Kleiderfalte hervorlugt, inszeniert.

Torheit der Furcht, ein Gemälde von Francisco José de Goya y Lucientes (1746-1828) aus dem Zyklus Los Disparates (Torheiten). Man sieht Soldaten in panischer Flucht vor einer monumentalen Kapuzengestalt davoneilen. Mit dieser Figur, die sich erst auf den zweiten Blick als Attrape erweist - denn ihr Auftritt wird offenbar von jener grinsenden Figur, die aus einer Kleiderfalte hervorlugt, inszeniert.

Goebbels Auftragsfilm Jud Süß: Von allem etwas

Der Spielfilm „Jud Süß“ erzählt, in historisch verfälschender und rassistischer Weise, die Geschichte vom jüdischen Bankier und Juwelier Jud Süß Oppenheimer (1692-1738), der im 18. Jahrhundert Finanzberater des Herzogs Karl Alexander ((1684-1737) von Württemberg wird.

Reichspropagandaminister Joseph Goebbels persönlich gab den Spielfilm in Auftrag und überwachte seine Entstehung. Er schreibt über den Film am 18. August 1940 in sein Tagebuch:

„Ein ganz großer, genialer Wurf. Ein antisemitischer Film, wie wir ihn uns nur wünschen können. Ich freue mich darüber“.

Am 5. September 1940 wurde "Jud Süß" auf den Filmfestspielen in Venedig unter großem Beifall des deutsch-italienischen Publikums uraufgeführt. Die deutsche Erstaufführung fand am 24. September in Anwesenheit von Goebbels und anderen hohen Vertretern aus Politik und Film im Berliner Ufa-Palast statt. Bekannte Schauspieler wie Heinrich George und Kristina Söderbaum spielten unter der Regie von Veit Harlan die Hauptrollen. Ausgezeichnet mit den Prädikaten "politisch und künstlerisch besonders wertvoll" und "jugendwert" wurde "Jud Süß" in Deutschland zu einem Publikumserfolg, der bis 1945 mehr als 6,2 Millionen Reichsmark einspielte.

Es war Goebbels Wunsch mittels einer Schreckfigur und dem Medium Film eine Massenfurcht in der deutschen Bevölkerung auszulösen. Diese Furcht sollte das Feindbild des Juden festigen. Bis heute ist „Jud Süß“ ein Vorbehaltsfilm. Vorbehaltsfilme dürfen aufgrund ihres kriegsverherrlichenden, rassistischen oder volksverhetzenden Charakters nur in geschlossenen Veranstaltungen, etwa im Rahmen der politischen Bildungsarbeit, gezeigt werden mit vorangehender Einführung eines Referenten und anschließender Diskussion.

Wer benutzt heute welche Schreckfigur um uns welche Furcht einzujagen? Inwieweit kann uns Aufklärung wirklich diese Furcht nehmen?

"Furcht führt zur Bereitschaft der Menschen, das Schlimmste zu glauben."
Curtius Quintus Rufus

Was Goebbels beabsichtigt hat, erreichen rechte Gruppen heute mittels Facebook und YouTube viel billiger, schneller und mit größerer Reichweite. Die Rechten schaffen eine Schreckfigur und die dazu gehörige Gruselgeschichte. Hinzu kommt jedoch eine neue perfide Methode: Die große Geschichte wird nicht mehr aktiv in einem Stück erzählt wie in einem Spielfilm. Vielmehr setzt sich der Zuschauer aus einzelnen kleinen Episoden (wie in einer Fernsehserie), die die Rechten täglich liefern, seine eigene individuelle Gruselgeschichte in seinem Kopf zusammen. Plakativ gesagt: "Jud Süß" war Fertiggericht, rechte Hetze auf Social Media ist Buffet. Wie im Marketing segmentieren die Rechten ihre "Kunden". Sie wissen:

"Die gesamte Menschheit fürchtet sich unaufhörlich: vor Krankheit, Tod, Verlusten. Jeder hat noch extra seine private Lieblingsfurcht, die er hätschelt. Jede Kleinigkeit, ein zufälliges Wort bringt ihm den ganzen Schrecken als einen Stoß ins Bewußtsein, der wie ein Strom hereinbricht und Schaden anrichtet."
Prentice Mulford

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