Mein Blognachbar Michael Blume von Natur des Glaubens wird des Öfteren wegen seiner Studienergebnisse zur Religiosität und Kinderzahl, persönlich und fachlich angegriffen. Fazit seiner Forschungsarbeiten: Religiöse haben im Durchschnitt mehr Kinder als Nichtreligiöse. Viele Blogleser stellen dann die Frage: Kommt dieser Unterschied im Fortpflanzungserfolg durch natürliche (gerichtete) Selektion zustande?
Voraussetzungen für Natürliche Selektion
Um diese Frage beantworten zu können, muss man die Voraussetzungen für natürliche Selektion kennen. Für natürliche Selektion müssen drei Bedingungen gegeben sein:
1. Variation eines Merkmals
2. Erblichkeit dieses Merkmals
3. Der unterschiedliche Fortpflanzungserfolg von Individuen einer Population muss in einem kausalen Zusammenhang mit einer unterschiedlichen Ausprägung dieses Merkmal stehen.
Schauen wir uns also der Reihe nach an ob diese Bedingungen bei den Studien zu Religiosität und Kinderzahl erfüllt werden.
1. Variation eines Merkmals
Das Merkmal wäre für mich nicht Religiosität. Religiosität ist für mich nur eine Ausprägung des Merkmals Hyperactive Agency Detection Device (HADD). Genauso wenig wie “klein” ein Merkmal, sondern nur eine Ausprägung des kontinuierlichen physischen Merkmals Körpergröße ist.
stark ausgeprägtes HADD: Religiosität
mittel ausgeprägtes HADD: Agnostizismus
schwach ausgeprägtes HADD: Atheismus
Variation eines Merkmals: Ja
Problem 1a: Handelt es sich hier um ein kategorisches oder ein kontinuierliches Merkmal?
Ich tendiere zu einem kontinuierlichen Merkmal. Man kann sich allerdings auch auf den Standpunkt stellen: Entweder man ist religiös, agnostisch oder atheistisch. Es gibt keine Übergänge.
Problem 1b: Wie erfassen wir dieses Merkmal für eine Klassifizierung quantitativ?
Die Anzahl der regelmäßigen Gottesdienstbesuche in einem bestimmten Zeitraum z.B. Monat kann es nicht sein. Ich denke eine Erhebung mittels standardisierten
Multiple Choice-Fragenbogen plus Selbstauskunft sind da geeigneter. Die Auswertung könnte über ein Punktesystem erfolgen. Anschliessend kann man mit einer multivariaten Clusteranalyse auf der Basis der gemessenen Indikatoren eine Typologie der Befragten erstellen, die die drei HADD-Typen umfasst.
HADD schafft eine spezifische, perspektivische Wirklichkeitswahrnehmung. Dieser Vorgang lässt sich vergleichen mit der Wirkung eines Messinstruments oder Werkzeugs, Messinstruments einerseits dem Benutzer erst bestimmte Wahrnehmungen oder Handlungen ermöglicht, andererseits wiederum diese durch die ihm innewohnenden Grenzen determiniert. So ermöglicht z.B. die religiöse Interpretation von Schicksalsschlägen einerseits die Akzeptanz unabweisbarer Realitätserfahrung, andererseits kann durch die darin stattfindenden Kausalzuweisungen eine angemessene Realitätsbewältigung blockiert werden.
Problem 1c: HADD ist ein Konzept der evolutionären Psychologie.
Evolutionäre Psychologie ist umstritten und es wird gesagt, dass ihre Konzepte häufig nicht mehr als plausibel klingende Geschichten seien, die sich nicht im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung bestätigen oder widerlegen ließen. Zudem stehen insbesondere populärwissenschaftliche Erörterungen des Themas häufig in der Kritik: So würden etwa Unterschiede im geschlechtsspezifischen Verhalten reduktionistisch auf angeborene, biologische Merkmale zurückgeführt
Methodische Lösungsansätze: Entwicklungspsychologische Experimente mit Kindern zur Theorie auf Mind (TOM)
2. Erblichkeit dieses Merkmals
Ist HADD erblich? Ja
Problem 2a: Kulturelle und/oder biologische Vererbung?
Problem 2b: Biologische Erblichkeit wird vermutlich durch kulturelle Traditionen stark maskiert.
Methodische Lösungsansätze: Unethisches Kaspar-Hauser-Experiment, Zwillingsstudien
Wie ist der biologische Erbgang?
Denkbar ist eine polygene Vererbung wie beim körperlichen Merkmal Hautfarbe. Diese Gene sind polymorph - enthalten also mehr als ein Allel. Die Allele für Religiosität sind dominant. Diesem Konzept liegt, die Annahme zugrunde, dass der größte Teil der natürlich auftretenden Variation bei Menschen, Tieren und auch in Pflanzen durch geringe genetische Änderungen in einer großen Zahl von Genen, den so genannten Quantitative Trait Loci (QTL), verursacht wird. Mit einer Kombination von kopplungsbasierter QTL-Kartierung und Assoziationskartierung kann man versuchen diese Gene und ihre Allele zu identifizieren. Allerdings sind diese Verfahren statistisch sehr anspruchsvoll und langwierig.
Der Begriff kopplungsbasierte QTL-Kartierung fasst alle diejenigen Untersuchungen zusammen, die darauf abzielen, einzelne QTL zu identifizieren, deren Einfluss auf das Merkmal zu quantifizieren und ihre Position im Genom zu bestimmen. Die Assoziationskartierung nutzt keine spaltenden, sondern natürliche Populationen oder Kollektionen von Individuen. Die Assoziationskartierung erlaubt eine sehr viel höhere Auflösung sowie den Vergleich einer sehr viel höheren Anzahl von Allelen.
Problem 2c bei kontinuierlichem Merkmal: Variable Expressivität
Als Expressivität bezeichnet man in der Genetik die individuell unterschiedlich starke Ausprägung eines phänotypischen Merkmals bei identischem Genotyp. Ist diese Ausprägung trotz identischem Genotyp verschieden, spricht man von einer variablen Expressivität. Eine variable Expressivität kann beispielsweise durch Umwelteinflüsse während und nach der Embryonalentwicklung verursacht werden.
Problem 2d bei kategorischem Merkmal: Unvollständige Penetranz
Als Penetranz bezeichnet man in der Genetik die prozentuale Wahrscheinlichkeit, mit der ein bestimmter Genotyp den ihm zugehörigen Phänotyp ausbildet. Eine vollständige Penetranz liegt vor, wenn der Genotyp in allen Fällen zur Ausprägung des zugehörigen Merkmals führt. Bei einer unvollständigen Penetranz wird das Merkmal nicht in jedem Fall ausgeprägt. Der Gründe dafür können zum Beispiel kompensierende Gene oder auch Umwelteinflüsse sein.
Methodische Lösungsansätze: Computersimulationen zu den verschiedenen Modellen mit ihren unterschiedlichen Annahmen und Vergleich mit empirischen Daten.
3. Unterschiedlicher Fortpflanzungserfolg innerhalb einer Population
Findet man innerhalb einer Population bei Individuen mit unterschiedlicher Ausprägung des HADD Unterschiede im Fortpflanzungserfolg? Ja
Besteht ein kausaler Zusammenhang zwischen unterschiedlichem Fortpflanzungserfolg und unterschiedlicher Ausprägung des HADD?
Ein kausaler Zusammenhang lässt sich nicht ausschließen. Michael Blume und seine Forscherkollegen geben verschiedene Indizien für einen indirekten kausalen Zusammenhang an.
Problem 3: Emergenz
HADD ist schwer zu trennen von Vorschriften, Geboten und Werten, die kulturell weitergegeben werden -> Coevolution von Genen und Kultur, später künstliche Selektion
Wegmarken
Ich habe hier mal grob und ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige Probleme und deren partielle Lösungsansätze skizziert. Fest steht, dass für Fortschritte bei diesem spannendem aber sehr schwierigem Thema eine interdisziplinäre Zusammenarbeit notwendig ist. Leider habe ich bei den Kommentaren auf Michaels Blog gesehen, dass bei den Diskussionen zur Beantwortung dieser Frage viel aneinander vorbei geredet und einiges aus dem Kontext gerissen wird. Mein Anliegen ist es, mit der Verortung der Probleme, ein wenig Struktur in die ganze Diskussion zu bringen.
Weiterführende Literatur
Cognitive and neural foundations of religious belief
Charles Darwin II: Die „natürliche Selektion“ als Motor der Evolution
The Making of the Fittest: Got Lactase? The Co-evolution of Genes and Culture