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Channel: Die Sankore Schriften

Vorbeugung von Coronavirus-Pandemien durch kreuz-neutralisierende Antikörper

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SARS-CoV-2, SARS-CoV und MERS-CoV sind Betacoronaviren, die beim Menschen tödliche Krankheiten auslösen können und erst kürzlich von Tieren auf den Menschen übertragen wurden. Laut Virolog*innen ist es möglich, dass sich bereits ein neues Betacoronavirus in einem uns unbekannten Wirtstier befindet und in Zukunft Menschen infizieren wird.

SARS-CoV befand sich in Fledermäusen und wurde über Zibetkatzen auf den Menschen übertragen. Bei MERS-CoV übertrugen Kamele das Virus auf den Menschen. Bei SARS-CoV-2 kennt man den Überträger nicht, vermutet aber Fledermäuse als die Wirtstiere. Um weiteren Epidemien bzw. Pandemien vorzubeugen, macht es daher Sinn auch Tiere1 zu impfen, die sich im näheren Umfeld des Menschen aufhalten, damit sich die Wahrscheinlichkeit verringert, dass diese die Viren auf den Menschen übertragen.

Immunolog*innen unter der Leitung von Tomohiro Kurosaki von der Osaka Universität in Japan haben eine Impfstrategie für Mäuse entwickelt, die die Produktion von Antikörpern fördert, die nicht nur SARS-CoV-2, sondern auch andere Betacoronaviren wie SARS-CoV und MERS-CoV neutralisieren können, sogenannte kreuz-neutralisierende Antikörper. Sie veröffentlichten ihre Experimente in der Fachzeitschrift Journal of Experimental Medicine [1].

Das für COVID-19 verantwortliche SARS-CoV-2-Virus dringt in menschliche Zellen ein, indem es mit seinem Spike-Protein an den Zelloberflächenrezeptor Angiotensin-converting enzyme 2 (ACE2) bindet. Das Spike-Protein besteht aus zwei Untereinheiten: Die S1-Untereinheit enthält die rezeptorbindende Domäne (RBD), die an ACE2 bindet; die S2-Untereinheit vermittelt danach die Fusion von Virushülle und Zellmembran.

Die RBD des Spike-Proteins besteht aus zwei Teilen: einer “Kernregion”, die bei allen Coronaviren sehr ähnlich ist, und einer spezifischen “Kopfregion”, die die Bindung an ACE2 vermittelt.

Die räumliche Struktur der rezeptorbindende Domäne (RBD) des Spike-Proteins von SARS-CoV-2 mit der Kopfregion (Head) und der Kernregion (Core). Quelle: Figure A from Ryo Shinnakasu et al (2021) Glycan engineering of the SARS-CoV-2 receptor-binding domain elicits cross-neutralizing antibodies for SARS-related viruses, Journal of Experimental Medicine, 218 (12): e20211003, page 3

Antikörper, die die Kopfregion erkennen, können das Eindringen von SARS-CoV-2 in menschliche Zellen blockieren, bieten aber nur wenig Schutz gegen andere Coronaviren, wie z. B. SARS-CoV. Antikörper, die die Kernregion erkennen, können dagegen das Eindringen verschiedener Coronaviren in menschliche Zellen verhindern. Leider neigen jedoch Menschen, die dem viralen Spike-Protein ausgesetzt sind, dazu, viele Antikörper gegen die Kopfregion zu produzieren, aber nur wenige, wenn überhaupt, Antikörper, die die Kernregion erkennen.

Das deutet darauf hin, dass, obwohl die Bildung kreuz-neutralisierender Antikörper möglich ist, die SARS-CoV-2-Infektion und die derzeitigen Impfstoffe wahrscheinlich keinen Schutz gegen das Auftreten neuer SARS-CoV-2 verwandter Viren bieten.

Glykanisierung der Kopfregion

Kurosaki und sein Team beschlossen, eine neue Impfstrategie zu testen, die das Immunsystem in die Lage versetzen könnte, kreuz-neutralisierende Antikörper zu produzieren. Die Forscher*innen veränderten gentechnisch die rezeptorbindende Domäne des SARS-CoV-2-Spike-Proteins und umhüllten dessen Kopfbereich mit zusätzlichen Zuckermolekülen, sogenannten N-Glykanen. Diese heißen so, weil das Glykan an eine Aminogruppe (-NH2) des Proteins, hier das virale Spike-Protein, gebunden wird. Diese N-Glykane sollten die Kopfregion vor dem Immunsystem abschirmen und die Produktion von Antikörpern gegen die nicht abgeschirmte Kernregion der rezeptorbindenden Domäne ankurbeln.

Tatsächlich produzierten Mäuse, die mit diesen veränderten Spike-Proteinen geimpft wurden, einen viel höheren Anteil an Antikörpern, die die Kernregion erkennen. Diese Antikörper waren in der Lage, nicht nur den Zelleintritt von SARS-CoV-2, sondern auch von SARS-CoV und drei SARS-ähnlichen Coronaviren aus Fledermäusen und Pangolinen zu neutralisieren.

Leider besteht einer der potenziellen Schwachpunkte des Glykanisierung darin, dass diese Methode auf Kosten einer verminderten Neutralisierung des natürlichen SARS-CoV-2 zu gehen scheint, was zu einem suboptimalen Schutz gegen das Virus führen kann.

Eine Impfung von Wirtstieren wäre zwar wünschenswert, ist aber leider selten praktikabel. Es ist nur möglich, die Tiere zu überwachen. Der praktische Ansatz für die Überwachung möglicher Wirtstiere für Coronaviren sind regelmäßige Antikörpertests. Dabei soll im Blut der Tiere nach Antikörpern gegen Coronaviren gesucht werden – ein Zeichen dafür, dass ein Tier das Virus erfolgreich bekämpft hat. Vielleicht befindet sich ja unter diesen Antikörpern ein natürlicher kreuz-neutralisierender Antikörper.

Fußnoten

1.Coronaviren können Säugetiere und Vögel befallen, darunter auch Hunde, Hühner, Rinder, Schweine, Katzen, Schuppentiere und Fledermäuse. Die sieben bekannten Coronaviren, die beim Menschen Krankheiten hervorrufen können, fallen in zwei Gattungen: Alphacoronaviren (HCoV-229E, HCoV-NL63) und Betacoronaviren (HCoV-HKU1, HCoV-OC43, SARS-CoV, MERS-CoV, SARS-CoV-2).

Weiterführende Literatur

[1]. Ryo Shinnakasu et al (2021) Glycan engineering of the SARS-CoV-2 receptor-binding domain elicits cross-neutralizing antibodies for SARS-related viruses, Journal of Experimental Medicine, 218 (12): e20211003, 1-15.

Spike-Proteine nach Impfung oder durch COVID-19: Welche sind gefährlicher?

Auf der Suche nach dem Zwischenwirt für das SARS-CoV-2-Virus

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Long COVID: Vermutlich eine Autoimmunkrankheit, die durch Anti-Idiotyp-Antikörper verursacht wird

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Laut Schätzungen bekommen mindestens 10 Prozent aller COVID-19-Erkrankten Long COVID. Long COVID beschreibt Symptome, die mehr als 4 Wochen nach Beginn der Erkrankung andauern oder neu auftreten und sich nicht durch eine PCR-bestätigte anhaltende Infektion oder andere Erkrankungen erklären lassen. In der Patientenleitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) werden die häufigsten Beschwerden wie folgt beschrieben:

“Am häufigsten berichten Menschen über Müdigkeit und schnelle bzw. ausgeprägte Erschöpfung nach körperlicher oder geistiger Anstrengung (“Fatigue”). Denk- oder Konzentrationsstörungen, die in diesem Zusammenhang häufiger beklagt werden, sind Schwierigkeiten, sich z.B. Dinge zu merken, schwierige Zusammenhänge zu verstehen bzw. sich ausdauernd zu konzentrieren. Außerdem fühlen sich Betroffene meist in ihrer Leistungsfähigkeit, insbesondere im Beruf oder der Familie, eingeschränkt. Auch von einem plötzlich aufgetretenen, länger anhaltenden Verlust zu schmecken oder zu riechen wird häufiger berichtet. Typisch ist ein wellenförmiger Verlauf der Beschwerden. Es gibt also Phasen, in denen es den Menschen besser geht und sie sich fast normal fühlen, dann wiederum Phasen, in denen es zu einer deutlichen Verschlechterung kommt. Bei einem Teil der Patienten nehmen die Beschwerden nach kleinen Anstrengungen zu. Dieses Phänomen wird post-exertionelle Malaise (PEM) genannt.” 

Frauen sind – unabhängig vom Alter – überdurchschnittlich stark von Fatigue betroffen. Laut einer ersten Studie sind 45 % der Long COVID-Erkrankten nach über sechs Monaten nicht in der Lage, Vollzeit zu arbeiten, 22 % sind arbeitsunfähig.

Menschen, die schwer an COVID-19 erkrankten, leiden häufiger an Long COVID als Menschen, die zunächst einen milden Verlauf hatten. Allerdings können auch Personen, die nur leicht an COVID-19 erkrankt waren, durchaus Long COVID entwickeln. Long COVID kann auch bei Kindern sowie Menschen ohne Vorerkrankung auftreten.

Die Ärzte William Murphy (University of California, Davis) und Dan Longo (Harvard Medical School) vermuten die Ursache von Long COVID in der Immunantwort des Patienten und erläutern das in einem Aufsatz, den sie für die Fachzeitschrift The New England Journal of Medicine schrieben [1]. Sie stützen sich dabei auf die Netzwerkhypothese des 1994 verstorbenen Medizinnobelpeisträgers Niels Jerne.

Jernes Hypothese beschreibt, wie das Immunsystem Antikörper reguliert: Durch eine Kaskade löst das Immunsystem zunächst eine primäre schützende Antikörperproduktion gegen ein Antigen (z. B. ein Virus) aus. Dieselben schützenden Antikörper können später eine neue sekundäre Antikörperproduktion gegen sich selbst auslösen, die im Laufe der Zeit zum Verschwinden der schützenden Antikörper führt.

Diese sekundären Antikörper, die sogenannten Anti-Idiotyp-Antikörper, können sich an die ursprünglichen schützenden Antikörper binden und diese beseitigen. Sie haben das Potenzial, das ursprüngliche Antigen (z. B. das Virus) in seiner Proteinstruktur zu spiegeln oder sich wie dieses selbst zu verhalten. Dies kann zu unerwünschten Wirkungen führen.

Schematische Struktur eines Antikörpers: Antikörper sind Proteine und bestehen aus jeweils zwei schweren und zwei leichten identischen Polypeptidketten, die über Disulfidbrücken verbunden sind. Schwere und leichte Ketten besitzen konstante und variable Bereiche

Wenn das Coronavirus in den Körper eingedrungen ist, bindet sein Spikeprotein an den ACE2-Rezeptor auf der Zelloberfläche und gelangt so in die Zelle. Das Immunsystem reagiert darauf mit der Produktion von schützenden Antikörpern, die sich an das Virus binden und seine Wirkung blockieren. Die Autoren vermuten, dass die Anti-Idiotyp-Antikörper potenziell auf dieselben ACE2-Rezeptoren abzielen können indem sie das virale Spikeprotein spiegeln. Wenn sie diese Rezeptoren blockieren oder aktivieren, könnten sie verschiedene normale ACE2-Funktionen in der Organen beeinträchtigen.

“Angesichts der kritischen Funktionen und der weiten Verbreitung von ACE2-Rezeptoren auf zahlreichen Zelltypen wäre es wichtig festzustellen, ob diese regulatorischen Immunreaktionen für einige der berichteten Off-Target- oder Langzeiteffekte verantwortlich sein könnten”, kommentierte Murphy. “Diese Reaktionen könnten auch erklären, warum solche Langzeiteffekte noch lange nach der Virusinfektion auftreten können.

Fußnoten

Der Begriff “Long-COVID” tauchte zum ersten Mal in einem Tweet von Elisa Perego im Mai 2020 auf Twitter auf (@elisaperego78, #longcovid). Sie beschrieb damit ihre eigenen anhaltenden Beschwerden nach durchgemachter COVID-19. Beschwerden, die länger als 12 Wochen nach Infektion auftreten oder fortbestehen, beschreiben die Fachärzte als Post-COVID.

Weiterführende Literatur

[1]. William J. Murphy, Dan L Longo (2021) A Possible Role for Anti-idiotype Antibodies in SARS-CoV-2 Infection and Vaccination, New England Journal of Medicine. DOI: 10.1056/NEJMcibr2113694

Eine Long Covid-Patientin berichtet: Covid-19 und mein verlorenes Ich

Long Covid – was Corona für Folgen haben kann (Podcast Feuer & Brot)

Die Informationsseite zu Long Covid

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mRNA-Impfstoffe 2.0: Eine neue Idee aus der Bionik

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Im mRNA-Impfstoff gegen COVID-19 wird die messenger RNA in eine Lipidhülle gepackt, damit sie in die Körperzellen transportiert und dort nicht sofort durch Endosomen abgebaut wird. Endosomen sind winzige, mit Säure gefüllte Bläschen im Inneren der Zelle. Sie fangen große Moleküle, die in die Zelle eingedrungen sind, ab und verdauen sie.

Der mRNA-Impfstoff enthält die Bauanleitung für das Spikeprotein des Coronavirus SARS-CoV-2. Diese Bauanleitung brauchen die Ribosomen in den Muskelzellen, um das Spikeprotein herzustellen. Das Spikeprotein wird dann vom Immunsystem als fremd erkannt und löst damit die Bildung von Antikörpern aus.

Ein Ribosom, eine mRNA und viele tRNAs (jedes an eine Aminosäure gebunden) interagieren um ein Peptid/Protein zu bauen.

Damit die Bauanleitung nicht zerstört wird, bevor sie die Ribosomen erreicht, muss der mRNA-Impfstoff den Endosomen entkommen können. In der Natur sind Grippeviren sehr gut darin, den Endosomen zu entkommen. Das Influenza-A-Virus beispielsweise hat auf seiner Oberfläche ein spezielles Protein namens Hämagglutinin, das, wenn es durch eine Säure im Endosom aktiviert wird, das Virus dazu bringt, seine Membran mit der endosomalen Membran zu verschmelzen. Dadurch öffnet sich das Endosom und das Influenzavirus kann seine RNA in die Zelle freisetzen, ohne das diese zerstört wird.

Liangfang Zhang, Professor für Nanotechnik an der Universität von Kalifornien San Diego Jacobs School of Engineering, USA, will diesen viralen Schutzmechanismus mit Nanopartikeln nachahmen, um mRNA-Impfstoffe vor den Endosomen zu schützen. Sein Forscherteam hat diese Nanopartikel an Mäusen getestet und die Ergebnisse in der Fachzeitschrift Angewandte Chemie International Edition publiziert [1].

Um die Nanopartikel herzustellen, veränderten die Genetiker im Labor gentechnisch Zellen, sodass sie Hämagglutinin auf ihren Zellmembranen exprimierten. Anschließend trennten sie die Membranen von den Zellen ab, zerbrachen sie in winzige Stücke und beschichteten damit Nanopartikeln aus einem biologisch abbaubaren Polymer, in das mRNA-Moleküle eingepackt waren. Das fertige Produkt ist ein grippevirusähnliches Nanopartikel, das in eine Zelle eindringen, aus dem Endosom ausbrechen und seine mRNA-Ladung freisetzen kann.

Die Nanopartikel waren mit mRNA gefüllt, die für ein biolumineszierendes Protein namens Cypridina luciferase codiert. Sie wurden sowohl in einer Lösung an den Nasenlöchern aufgetragen als auch in eine Körpervene gespritzt. Die Forscher untersuchten die Nasen und das Blut der Mäuse und stellten eine erhebliche Menge an Biolumineszenzsignalen fest. Das war ein Beweis dafür, dass die Nanopartikel ihre mRNA effektiv in die Zellen transportiert und sie vor den Endosomen geschützt hatten.

Die Wissenschaftler testen ihre Methode jetzt mit therapeutischer mRNA. “Wenn man mehr mRNA in die Zellen bringen kann, bedeutet dies, dass man eine viel geringere Dosis eines mRNA-Impfstoffs einnehmen kann, was die Nebenwirkungen bei gleicher Wirksamkeit verringern könnte. Es könnte auch die Einbringung von small interfering RNA (siRNA) in Zellen verbessern, die bei einigen Formen der Gentherapie eingesetzt wird.” so Zhang.

Mir gefällt die Idee von Chang. Die Immunologen werden dann für eine Impfung vermutlich eine Prime-Boost-Strategie – ähnlich wie bei Vektorimpfstoffen – mit unterschiedlichen Nanopartikeln, daher unterschiedlichen Hämagglutininen verfolgen.

Weiterführende Literatur

[1]. Joon Ho Park, Animesh Mohapatra, Jiarong Zhou, Maya Holay, Nishta Krishnan, Weiwei Gao, Ronnie H. Fang, Liangfang Zhang. (2021) Virus‐Mimicking Cell Membrane‐Coated Nanoparticles for Cytosolic Delivery of mRNA. Angewandte Chemie International Edition; DOI: 10.1002/anie.202113671

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Positiv kontrafaktisches Denken bei Neid und Bedauern

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Am Ende des Jahres blicken wir gewöhnlich zurück und denken über die Entscheidungen nach, die wir im Laufe des Jahres getroffen haben: Was wäre, wenn ich mich nicht hätte impfen lassen? Was wäre, wenn ich verreist wäre? Hätte ich bei Tinder nach rechts wischen sollen? Hätte hätte Fahrradkette.

Kontrafaktisches Denken ist das Nachdenken über eine Vergangenheit, die nicht stattgefunden hat. Wir konstruieren häufig kontrafaktische Alternativen zu dem, was gewesen ist. Im Mittelpunkt des kontrafaktischen Denkens kann eine bessere Alternative zur gegenwärtigen Situation stehen – eine positiv kontrafaktische Situation – oder eine, die tatsächlich schlechter ist als die gegenwärtige – eine negativ kontrafaktische Situation.

Der verpasste Flug: Knapp daneben tut mehr weh als voll daneben

Die Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky [1] zeigten in einem Theory of Mind-Setting, dass Nähe die Enttäuschung in einem positiv kontrafaktischen Szenario erhöht. Sie schilderten einer Reihe von Personen das folgende Szenario:

Herr Müller und Herr Meier haben verschiedene Flüge die zur gleichen Zeit gehen. Sie reisen mit der gleichen Limousine aus der Stadt an, geraten in einen Stau und kommen 30 Minuten nach der planmäßigen Abflugzeit ihrer Flüge am Flughafen an. Herrn Müller wird gesagt, sein Flug sei pünktlich abgeflogen. Herrn Meier wird gesagt, dass sein Flug Verspätung hatte und erst vor fünf Minuten abgeflogen ist. Wer ist verärgerter Herr Müller oder Herr Meier?

96% der Teilnehmer meinten, dass Herr Meier verärgerter sein würde. Nicht verwunderlich, denn wer kennt es nicht, dass einem trotz Rennens der Bus vor der Nase wegfährt.

Die Lottospieler*innen: Verzerrte Bewertung einer Entscheidung durch den Ausgang

Die Forscher*innen Marcel Zeelenberg und Jane Beattie [2] baten eine Gruppe von Personen, sich zwischen zwei Möglichkeiten zu entscheiden: Eine besteht darin, einen Betrag von 20 £ zu nehmen, der sicher ausgezahlt wird. Die andere Möglichkeit ist eine Zahlung von entweder 100 £ oder gar nichts, die durch den Wurf einer Münze entschieden wird. Wir nennen diese zweite Möglichkeit, eine Lotterie.

Eine Mehrheit wird sich wahrscheinlich für die Zufallszahlung entscheiden. Richten wir unsere Aufmerksamkeit auf diese Menschen. Wenn die Münze geworfen wird, wird etwa die Hälfte von ihnen nichts erhalten und ihre Entscheidung bedauern. Die andere Hälfte erhält 100 £, und wird sich über ihre Wahl freuen. Die gleiche Entscheidung wird wegen des unterschiedlichen Ausgangs der Zufallszahlung unterschiedlich bewertet: Betrachtet man die Ausgangssituation, gibt es aber keinen Unterschied zwischen der Wahl der Versuchspersonen, die gewonnen haben, und denjenigen, die nicht gewonnen haben. Sie hatten die gleichen Möglichkeiten und trafen die gleiche Entscheidung.

Addition und Subtraktion von Handlungen

Vor allem nach einem unerwünschten Ergebnis denken Menschen oft darüber nach, welche Ergebnisse sie hätten erzielen können, wenn sie anders gehandelt hätten. Manche Menschen denken über zusätzliche Handlungen nach, die sie hätten durchführen sollen – die additive Variante der positiv kontrafaktischen Situation. Wenn sie eine Prüfung nicht bestehen, denken sie vielleicht, dass sie in der Woche davor hätten lernen sollen. Andere Personen könnten Handlungen in Erwägung ziehen, die sie zwar ausgeführt haben, aber hätten unterlassen sollen – die subtraktive Variante der positiv kontrafaktischen Situation. Wenn sie eine Prüfung nicht bestehen, bereuen sie vielleicht, dass sie in der Nacht davor gesoffen haben.

Der verlorne Sohn von Hermann Neuhaus, 1891

Handlungen im sozialen Kontext: Der Film „Zurück in die Zukunft“

Ein großer Teil der Handlung des Science-Fiction-Films “Zurück in die Zukunft” basiert auf einer solchen positiv kontrafaktischen Analyse: In diesem Film ist der Teenager Marty McFly ein aufstrebender Musiker in Hill Valley, Kalifornien. Sein Vater George wird von seinem Vorgesetzten Biff Tannen schikaniert, während seine Mutter Lorraine eine übergewichtige, depressive Alkoholikerin ist, die unzufrieden mit Martys Beziehung zu Jennifer Parker ist. Sie erzählt, wie sie George kennenlernte, als ihr Vater ihn mit dem Auto anfuhr.

Am 26. Oktober 1985 trifft Marty auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums seinen Freund, den Wissenschaftler “Doc” Emmitt Brown. Doc stellt eine Zeitmaschine vor, die aus einem modifizierten DeLorean gebaut hat und mit Plutonium betrieben wird, das er von libyschen Rebellen gestohlen hat. Doc demonstriert das Navigationssystem mit dem Datumsbeispiel des 5. Novembers 1955: dem Tag, an dem er die Maschine konzipiert hat. Einen Moment später kommen die Libyer und töten ihn. Marty flieht mit dem DeLorean, aktiviert aber versehentlich die Zeitmaschine und kommt im Jahr 1955 ohne das erforderliche Plutonium an.

Dort trifft Marty auf den Teenager George, der von seinem Mitschüler Biff schikaniert wird. Nachdem Marty George vor einem entgegenkommenden Auto gerettet hat und bewusstlos geworden ist, wacht er auf und findet sich in der Obhut von Lorraines Familie wieder. Marty macht sich auf den Weg und spürt Docs jüngeres Ich auf, um ihm zu helfen, ins Jahr 1985 zurückzukehren. Da es kein Plutonium gibt, erklärt Doc, dass die einzige Energiequelle, die in der Lage ist, die notwendigen 1,21 Gigawatt Strom zu erzeugen, um die Zeitmaschine zu betreiben, ein Blitzschlag ist. Marty zeigt Doc ein Flugblatt aus der Zukunft, in dem von einem Blitzeinschlag im Gerichtsgebäude der Stadt am kommenden Samstagabend berichtet wird.

Doc weist Marty an, sein Haus nicht zu verlassen und mit niemandem in Kontakt zu treten, da er unbeabsichtigt den Lauf der Geschichte und die Zukunft verändern könnte; Doc weigert sich deshalb, die Warnungen von Marty vor seinem zukünftigen Tod zu beachten. Marty erkennt, dass er die Begegnung seiner Eltern verhindert hat, und Doc warnt ihn, dass Marty aus dem Leben gerissen wird, wenn er nicht einen Weg findet, George Lorraine vorzustellen.

Er schmiedet mit George einen Plan, um seine Eltern wieder zusammenzubringen: Marty verabredet sich mit Lorraine an dem Ort zum Tanz, wo sich seine Eltern zum ersten Mal geküsst haben. Er muss seine Mutter belästigen, und George wird ihn im Auto sehen und ihm sagen, er solle sich von ihr fernhalten, womit er seiner Mutter beweist, dass George ein treuer Freund ist. Im Auto sieht Marty, das seine Mutter trinkt und raucht, und warnt sie vor den Auswirkungen dieser Dinge. Leider zerrt Biff Marty aus dem Auto und versucht, sich Lorraine aufzudrängen. Als George zum Auto kommt, sieht er sich mit Biff konfrontiert, dem Tyrannen, der ihn immer wieder verprügelt. George setzt sich zur Wehr und versetzt Biff einen so heftigen Schlag, dass dieser bewusstlos zu Boden fällt. Er und Lorraine gehen zum Tanz und küssen sich.

Am Ende des Films dachte ich, dass der Grund, warum der gegenwärtige Biff den gegenwärtigen George schikaniert, Neid ist: Biff ist neidisch, dass George, Lorraine bekommen hat. Vielleicht liebt Biff sie, weiß aber ganz genau, dass sie ihn niemals lieben wird. Neid kann hinter den schlimmsten Formen der Gewalt stecken. Die Umstände, unter denen Menschen neidisch sind, sind immer mit einem sozialen Vergleich oder Wettbewerb zwischen einem selbst und einer anderen Person verbunden.

Neid und Bedauern haben ein gemeinsames Merkmal, nämlich die kontrafaktische Analyse der individuellen Handlungen [3]: Das Bedauern bezieht sich auf Handlungen, die wir hätten ausführen können, aber nicht ausgeführt haben, und deren Ergebnis wir kennen. (”Ich wäre besser dran gewesen, wenn ich die andere Option gewählt hätte”) Neid bezieht sich auf Handlungen, die wir hätten ausführen können, die wir aber nicht ausgeführt haben, sondern jemand anderes, und bei denen wir das Ergebnis erfahren, dass die andere Person erzielt hat. Neid kann eine ähnliche Rolle spielen und als soziales Analogon des Bedauerns fungieren (“Ich wäre besser dran gewesen, wenn ich die von der anderen Person gewählte Option gewählt hätte”).

Weiterführende Literatur

[1]. Kahneman D., and Tversky, A. (1982) The simulation heuristic, In D. Kahneman, P. Slovic and A. Tversky (eds.) Judgement under uncertainty: Heuristics and biases (pp 201-208) New York: Cambridge University Press

[2]. Zeelenberg, M., Beattie, J., van der Pligt, J. & de Vries, N. K. (1996) Consequences of regret aversion: effects of expected feedback on risky decision making. Organ. Behav. Hum. Decis. Processes 65, 148–158.

[3]. Coricelli, G., & Rustichini, A. (2010). Counterfactual thinking and emotions: regret and envy learning. Philosophical transactions of the Royal Society of London. Series B, Biological sciences, 365(1538), 241–247. https://doi.org/10.1098/rstb.2009.0159

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Corona: Früherkennung neuer Virusvarianten durch Abwassersequenzierung

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Epidemiolog*innen glauben, dass die Omikron-Subvariante BA.5 eine Sommerwelle auslösen wird. Zwei Drittel der Corona-Infektionen in Deutschland gehen inzwischen auf diese Omikron-Subvariante zurück. Doch welche Virusvariante oder -subvariante wird im Herbst in Deutschland vorherrschend sein?

Das herauszufinden, erfordert die Sequenzierung der Genome der SARS-CoV-2-Viren, d. h. die Bestimmung der Nukleotid-Abfolge ihrer vollständigen genetischen Information. Virolog*innen wollen für die Sequenzierung die Viren jetzt aus dem Abwasser gewinnen.

Im Abwasser befinden sich SARS-CoV-2-Viren, die von Infizierten mit den Fäkalien ausgeschieden wurden. Durch die Entnahme von Abwasserproben können Epidemiolog*innen Informationen über die Infektionen einer ganzen Bevölkerung erhalten. Einige Abwassersysteme versorgen mehrere Tausend Menschen, andere Hunderttausende.

Vor der Abwassersequenzierung war die einzige Möglichkeit, um Viren für die Sequenzierung zu erhalten, die klinische Testung Tausender Menschen, bei der ihnen Nasensekret, Speichel oder Blut abgenommen wurde. Aber von allen, die sich testen ließen, wurde nur ein Bruchteil der Proben überhaupt sequenziert. Insbesondere in Gebieten, wo die Ressourcen, die öffentliche Beteiligung oder die Menge an Tests begrenzt sind, ist eine Sequenzierung oft schwer durchführbar.

Die Entnahme von Abwasserproben ist ein anderer Weg, um Viren zu erhalten. Es ist auch eine Informationsquelle, die weniger anfällig für eine Stichprobenverzerrung (Selection Bias) ist, da die Genetiker Informationen von allen Personen, die die Kanalisation benutzen, erhalten können, unabhängig davon, ob sie in einer Klinik getestet wurden oder nicht. Epidemiolog*innen wissen, dass es Personen gibt, die asymptomatische Infektionen haben und vielleicht nie getestet werden. Zusätzlich können die Epidemiolog*innen mit der Abwassersequenzierung Veränderungen in der Häufigkeit von SARS-CoV-2-Varianten in einer bestimmten Region im Laufe der Zeit verfolgen.

Forscher*innen der Oregon State University untersuchen Abwasser auf das SARS-CoV-2-Virus-19

Smruthi Karthikeyan von der Universität San Diego in Kalifornien, USA, Joshua I. Levy vom Scripps Research Institute, La Jolla in Kalifornien und weitere Forscher*innen haben die Abwassersequenzierung in einem Abwassersystem von San Diego durchgeführt und ihre Ergebnisse in der Fachzeitschrift Nature publiziert [1].

Die Abwasserproben wurden wöchentlich mit Robotern eingesammelt. Nach Anreicherung und Isolierung der RNA bestand für die Genetiker*innen die Herausforderung darin, die SARS-CoV-2-RNA aus der riesigen Menge von Viren- und Bakterien-RNA rauszufischen, die Menschen jeden Tag ausscheiden. Joshua Levy benutzte dafür RNA-Barcodes, das sind kurze RNA-Sequenzen, die für die jeweilige Virusvariante einzigartig sind. Die RNA-Barcodes speicherte er als Referenzen in einer Datenbank. Dann entwickelte er das Computerprogramm Freyja, das die RNA aus dem Abwasser nach diesen Barcodes durchforstet.

Die Genetiker*innen erkannten neu auftretende besorgniserregende Virusvarianten bis zu 14 Tage früher als die klinische Sequenzierung. Zusätzlich entdeckten sie Virusvarianten, die von der klinischen Sequenzierung nicht erfasst wurden.

Freyja – ist kostenlos und wird von den öffentlichen Gesundheitsbehörden in den USA bereits in großem Umfang zur Abwasserüberwachung eingesetzt. Wir können auch andere Viren, wie z. B. das Influenzavirus oder das Affenpockenvirus, im Abwasser nachweisen. Die Zusammenarbeit von Kommunen, Bundesländern und dem Bund im öffentlichen Gesundheitswesen, um so eine Abwasserüberwachung in Deutschland aufzubauen, würde unsere Fähigkeit verbessern, nicht nur auf diese Pandemie zu reagieren, sondern auch auf zukünftige.

Weiterführende Literatur

[1]. Karthikeyan, S., Levy, J.I., De Hoff, P. et al. (2022) Wastewater sequencing reveals early cryptic SARS-CoV-2 variant transmission. Nature, https://doi.org/10.1038/s41586-022-05049-6

Mit dem Tool “Freyja” können neue SARSCoV2-Varianten frühzeitig und automatisiert in Abwasser nachgewiesen werden.

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EVE: Eine Künstliche Intelligenz an der Schnittstelle zwischen Evolutionärer Medizin und Genommedizin

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Die evolutionäre Medizin ist ein Zweig der Humanmedizin bei der Ärzt*innen im Stoffwechsel von Tieren nach neuen Therapieansätzen zur Behandlung menschlicher Krankheiten suchen. Ich möchte das am Beispiel einer Erbkrankheit der Leber erklären: Menschen, die an Progressive familiäre intrahepatische Cholestase Typ 3 (PFIC3) leiden, haben eine extrem niedrige Phospolipidkonzentration im Gallensaft, die mit erhöhtem Risiko für Gallensteine und Zerstörung der Gallenkanälchen verbunden ist. PFIC3 beginnt in der frühen Kindheit und macht durch ihren schweren Verlauf oft eine Lebertransplantation notwendig. Verantwortlich für PFIC3 sind Mutationen in den zwei, von Mutter und Vater geerbten, Abcb41-Genen, die dazu führen, dass diese Gene inaktiv sind und die Zellen kein Abcb4-Protein herstellen. Nur wenn das mütterliche und das väterliche Abcb4-Gen inaktiv sind kommt es zum Ausbruch von PFIC3.

Beispiel einer Missense-Mutation: In der DNA-Sequenz wird eines der Nukleotide (A = Desoxyadenosintriphosphat) durch ein anderes (C = Desoxycytidintriphosphat) ersetzt. Dies führt dazu, dass eine falsche Aminosäure in die Proteinsequenz eingebaut wird.

Orthologe Gene und Erbkrankheiten

Das Abcb4-Gen codiert für ein Protein, das in der Leber hergestellt wird und von dort Phospholipide in den Gallensaft transportiert. Das Abcb4-Gen ist ein orthologes Gen. Orthologe Gene sind Gene, die in verschiedenen Organismen (z. B. Mensch, Maus, Fliege, Bäckerhefe, Sonnenblume) vorkommen und deren Nucleotidsequenzen eine hohe Übereinstimmung haben. Stammesgeschichtlich wird in diesem Fall ein gemeinsamer Vorfahre vermutet, aus dem heraus sich die entsprechenden Organismen entwickelt haben. Durch die hohe Übereinstimmung2 in der Nucleotidsequenz wird eine ähnliche Funktion der von ihnen codierten Proteine vermutet. Je näher Tierarten miteinander verwandt sind, desto höher ist die Übereinstimmung der Nucleotidsequenzen zwischen zwei orthologen Genen. Je näher Tierarten miteinander verwandt sind, desto mehr orthologe Gene haben sie gemeinsam. Da die Genetiker*innen in den letzten 24 Jahren3 nicht nur das Genom des Menschen, sondern auch die Genome von vielen Tieren sequenziert haben, sind bereits viele orthologe Gene entdeckt worden, die unter anderem in OrthoDisease dokumentiert werden. OrthoDisease ist eine Datenbank mit Genen von Modellorganismen, die ortholog zu menschlichen Genen sind, die Mutationen haben, die zu Erbkrankheiten führen. Diese tierischen Gene werden im Englischen Human Disease Orthologs genannt.

Das Abcb4-Gen ist im Meerschweinchen und im Pferd inaktiv, denn größere Teile der DNA-Sequenz fehlen in diesem Gen. Zusätzlich haben Meerschweinchen und Pferd extrem niedrige Phospolipidkonzentrationen im Gallensaft genau wie die Menschen, die an PFIC3 leiden. Es stellt sich also die Frage, warum diese zwei Säugetierspezies nicht an den für PFIC3 typischen Leberschäden leiden, obwohl das Gen inaktiv ist. Wie bleibt die Leber gesund? Um diese Fragen zu beantworten ist die Humanmedizin auf die Hilfe der Tiermedizin und der Bioinformatik angewiesen. Die Bioinformatik verfügt jetzt mit der künstlichen Intelligenz EVE (Evolutionary Model of Variant Effect) über ein neues Werkzeug sie dabei zu unterstützen.

Künstliche Neuronale Netzwerke und Unüberwachtes Maschinelles Lernen

EVE ist ein künstliches neuronales Netzwerk, das Unüberwachtes Maschinelles Lernen (UML) nutzt. UML beruht nicht auf vordefinierten Parametern und Regeln, sondern beinhaltet adaptives Lernen. Ein klassisches Beispiel ist das Lernen, was Katzen und Hunde sind von Katzen- und Hundebildern: Beim UML wird dem Netzwerk eine Reihe von Katzen- und Hundebildern vorgelegt, ohne dass ihm gesagt wird, welche Bilder Katzen zeigen und welche Hunde. Es muss das selbst erkennen. UML erkennt neue Muster in noch nie gesichteten Daten und das macht diesen Ansatz besonders geeignet für die Aufgabe.

Schematische Darstellung eines künstlichen neuronalen Netzwerks mit mehreren versteckten Schichten (hier ein Feed-Forward-Modell, da sich die Information ausschließlich nach vorne ausbreitet). Ein künstliches neuronales Netzwerk besteht aus Knoten, auch Neuronen genannt, die Informationen von anderen Neuronen oder von außen aufnehmen, modifizieren und als Ergebnis ausgeben. Dies erfolgt über drei verschiedene Schichten, denen jeweils eine Art Neuronen zugeordnet werden kann: solche für den Input (Eingabeschicht), für den Output (Ausgabeschicht) und die sogenannten Hidden-Neuronen (versteckte Schichten) die sich zwischen der Eingabeschicht und der Ausgabeschicht befinden..

Die Forscher*innen Debora S. Marks (Medizinische Fakultät der Universität Harvard, USA) und Yarin Gal (Abteilung für Informatik der Universität Oxford, England) haben mit ihrem Team EVE entwickelt um Mutationen in den orthologen Genen von 140 000 Tierarten (inklusive ausgestorbener Tierarten) zu erkennen und zu klassifizieren. Die Forscher*innen bewerteten mit EVE 36 Millionen Proteinsequenzen und 3.219 krankheitsassoziierte Gene in verschiedenen Tierarten. EVE schätzte die Wahrscheinlichkeit, dass jede einzelne Aminosäurevariante entweder unbedenklich oder krankmachend für den Menschen ist.

Um festzustellen, ob EVE genaue Vorhersagen macht, verglichen die Forscher seine Ergebnisse mit fünf Mutationen in menschlichen Genen, deren klinische Bedeutung bekannt ist: verschiedene Formen von Krebs, mehrere Krebssyndrome und Herzrhythmusstörungen. Die Vorhersagen von EVE überschnitten sich mit den aktuellen Beschreibungen aus experimentellen Daten.

Ein bemerkenswerter Vorteil von EVE gegenüber den derzeitigen Methoden besteht darin, dass es einen kontinuierlichen Score statt eines binären Scores vergibt. Denn selbst wenn Genvarianten als krank machend eingestuft werden, ist die Art und Weise, wie sich eine Mutation im Körper auswirken kann, vielschichtig. “Es gibt ein ganzes Kontinuum der Pathogenität”, so Marks. “Der kontinuierliche Score ist sehr wichtig für die Vorhersage des Grades der Pathogenität. Bedeutet die Mutation, dass ich Schmerzen in meinem kleinen Zeh bekomme oder werde ich morgen sterben?” Die Forscher*innen müssen z. B. bedenken, dass eine Orthologie von Genen nicht zwangsläufig zu Orthologie von Organen führt, so ist z. B. der Fall nicht auszuschließen, dass orthologe Gene und damit auch orthologe Proteine in zwei völlig verschiedenen, nicht-orthologen Geweben gefunden werden.

Ein weiterer wichtiger Aspekt von EVE ist die Zuweisung eines Vorhersagesicherheitsscores für jedes einzelne Gen. Für jede genetische Variante teilt EVE den Ärzt*innen mit, wie sehr sie der Vorhersage vertrauen können. “Wir geben den Mediziner*innen nicht nur eine Zahl, sondern auch den Grad der Unsicherheit, der damit verbunden ist”, sagt Gal. “Das ist etwas, dass sie bei der Entscheidungsfindung verwenden können. EVE kann sagen: ‘Ich glaube, diese Variante gehört zu diesem Stapel, aber ich habe noch nie solche Varianten gesehen, also ist das mit Vorsicht zu genießen.

Von OrthoDisease zur Genommedizin

Marks und Gal beteiligen sich auch an der Atlas of Variant Effects Alliance, einer weltweiten Forschungsinitiative, deren Ziel es ist, einen umfassenden Atlas aller möglichen menschlichen Genvarianten und ihrer Auswirkungen auf Proteinfunktionen und Organe zu erstellen. Ziel der Bemühungen ist es, die Diagnose, Prognose und Behandlung menschlicher Krankheiten zu verbessern. Seitdem Next Generation Sequencing4 automatisierte Genomsequenzierungen im großen Maßstab möglich gemacht hat, verstehen Forscher*innen immer schneller, welchen Einfluss spezifische genetische Veränderungen auf die Gesundheit oder Erkrankung eines Menschen haben. Die Genommedizin nutzt Sequenzinformationen für eine genetische Diagnostik und klinische Interpretation der individuellen Erbinformation.

Fußnoten

1. Abcb4 ist die englische Abkürzung für ATP binding cassette subfamily B member 4

2. Stimmen zwei Gene in der Nukleotidsequenz in mehr als 30 % ihrer Nukleotide in der Abfolge überein, so gilt eine andere Ursache als die gemeinsame Abstammung als unwahrscheinlich.

3. 1998 wurde das Genom des Fadenwurms Caenorhabditis elegans sequenziert. Es war das erste Mal, dass das Genom eines Tieres sequenziert wurde. Das erste Genom eines Säugetieres war das des Menschen 2003.

4. Ein komplettes, menschliches Genom kann innerhalb eines Tages sequenziert werden. 

Weiterführende Literatur

1. Frazer, J., Notin, P., Mafalda, D., Gomez, A., Min, J. K., Brock, K., Gal, Y., Marks, D. S.. (2021) Disease variant prediction with deep generative models of evolutionary data. Nature 599, 91–95.


2. Menschliches Genom jetzt vollständig sequenziert

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Kants Kritik der reinen Vernunft: Urteilsformen der Erkenntnis [Video]

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Kants „Kritik der reinen Vernunft“ beantwortet die Frage „Was kann ich wissen?“ und beurteilt dabei die Rolle der Vernunft in der Erkenntnistheorie anhand von philosophischen Maßstäben. Die Vernunft ist dabei sowohl Gegenstand als auch Subjekt seiner philosophischen Untersuchung. Kant spricht von der reinen Vernunft, weil es ihm in erster Linie um die Möglichkeit einer von der Erfahrung unabhängigen Erkenntnis geht. Diese Form der Erkenntnis möchte er auf ein neues Fundament stellen, das es möglich macht, zwischen gesicherten Erkenntnissen und bloßer Spekulation zu unterscheiden. In seinem Werk unterscheidet Kant zwischen a priori (rationalen) und a posteriori (empirischen) Urteilen und zwischen analytischen und synthetischen Urteilen. Diese Urteilsformen werden in dem folgenden Video erklärt.

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Die Bloom’sche Lernzieltaxonomie: ChatGTP und ChatSonic im Test

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Die Lernzieltaxonomie nach Benjamin Bloom (1913-1999) beschreibt unterschiedliche kognitive Niveaustufen, die Lernende bei der Auseinandersetzung mit einem Thema erreichen können. Die Bloom’sche Lernzieltaxonomie nennt sechs Stufen, die sich im Grad der Komplexität unterscheiden.

Stufe 1: Erinnern

Mit dieser Art von Fragen wird die Fähigkeit der Schüler*innen getestet, sich Begriffe, Fakten und Details zu merken und abzurufen, ohne das Konzept unbedingt zu verstehen.

Stufe 2: Verstehen

Diese Fragen testen die Fähigkeit der Schüler*innen, mit eigenen Worten zusammenzufassen und zu beschreiben, ohne dass sie sich auf etwas beziehen müssen.

Stufe 3: Anwenden

Anwendungsfragen ermutigen die Schüler*innen, das Gelernte auf einen anderen Kontext als den, in dem es gelernt wurde, anzuwenden oder zu übertragen.

Stufe 4: Analyse

Diese Fragen regen die Schüler*innen dazu an, Material in Teile zu zerlegen, Muster und Beziehungen zwischen den Teilen zu beschreiben, Informationen zu unterteilen und zu zeigen, wie sie zusammengesetzt sind.

Stufe 5: Synthese

Diese Fragen regen die Schüler*innen dazu an, etwas Neues zu schaffen, indem sie Ideen aus verschiedenen Quellen zu einem neuen Ganzen kombinieren.

Stufe 6: Bewertung

Bewertungsfragen regen die Schüler*innen dazu an, sich eine Meinung zu bilden und auf der Grundlage bestimmter Kriterien Wertentscheidungen zu treffen.

Explizites Wissen (Explicit Knowledge) ist dokumentiertes Wissen, dass für andere greifbar ist, z.B. in Form von Berichten. Implizites Wissen (Tacit Knowledge) existiert als Können und Erfahrung dagegen nur im Kopf der Person. Es ist schwer greifbar, speicherbar und verteilbar. Das Eisbergmodell veranschaulicht, dass explizites Wissen nur einen kleinen Anteil dessen ausmacht was in einer Person vorhanden ist. Der weitaus größere Anteil ist implizites Wissen.

Chatbots

Ein Chatbot ist ein computerbasiertes Dialogsystem, dass sich mit Menschen in menschlicher Sprache unterhält. Benutzer*innen können Fragen stellen, auf welche das System in menschlicher Sprache antwortet. Er kann Texteingabe, Audioeingabe oder beides unterstützen. Die Chatbots ChatGTP und ChatSonic sind mit NLP-Technologien (NLP=Natural Language Processing) ausgestattet, sodass natürliche Sprache besser verarbeitet wird und sie auch eher weniger spezifische Fragen verstehen können. Beide Chatbots nutzen Künstliche Intelligenz: mithilfe von Machine Learning sind sie in der Lage, ihr Wissen mit jedem Chat zu erweitern und somit „klüger“ zu werden.

Meine Fragen zum Thema Sprachen an ChatGTP und ChatSonic

Für jede Stufe der Bloom’schen Lernzieltaxonomie habe ich ChatGTP (GPT 3.5) und ChatSonic (kostenlose Version, Typ: General AI) eine Frage bzw. Aufgabe zum Thema Sprachen gestellt. Die sechste Bewertungsfrage, die sich jeweils auf eine vorige Antwort des ChatBots bezieht, musste ich individuell anpassen. ChatGPT greift auf Datensätzen zu, die bis zum Jahr 2021 gehen. (Mit der kostenfreien Google Chrome Extension WebChatGPT kann man diese Limitierung aufheben.) ChatSonic hat Zugriff auf das Internet und kann so auch über aktuelle Geschehnisse schreiben. In der kostenlosen Version kannst du als Benutzer*in 12 Fragen pro Tag stellen und bist auf 25.000 Wörter insgesamt eingeschränkt. Ob sich diese 25.000 Wörter auf die Antworten des Bots, deine Fragen oder beides beziehen, ist mir leider nicht klar. Wenn die Zahl der Wörter für die Antwort mit jeder Frage weniger wird, beeinflusst das natürlich irgendwann die Qualität der Antwort. ChatSonic gibt bei manchen Antworten Referenzen, die ich hier aber nicht verlinkt habe.

Erinnern

Was ist Sprache?

ChatGTP: Sprache ist ein komplexes Kommunikationssystem, das es Menschen ermöglicht, ihre Gedanken, Ideen und Gefühle mittels eines Systems von Lauten, Wörtern und Regeln auszudrücken. Es gibt viele verschiedene Arten von Sprachen, die in unterschiedlichen Teilen der Welt gesprochen werden und jede hat ihre eigene Grammatik und Vokabular. Sprache ist auch ein wichtiger Teil der menschlichen Kultur und spielt eine große Rolle in der Entwicklung von Gesellschaft und Technologie.

ChatSonic: Eine Sprache ist ein System zur Kommunikation zwischen Menschen oder Computern, das es ermöglicht, komplexe Ideen und Gedanken durch Wörter, Zeichen oder Symbole auszudrücken. Es gibt unzählige Sprachen, die in verschiedenen Regionen und Ländern gesprochen werden, wie z.B. Englisch, Deutsch, Französisch, Spanisch und viele mehr. Jede Sprache hat ihre eigene Grammatik, Syntax und Wortschatz, was es Menschen ermöglicht, sich in der jeweiligen Sprache auszudrücken.

Verstehen

Was ist der Unterschied zwischen Deutsch und Kisuaheli?

ChatGTP: Deutsch und Kisuaheli sind beides Sprachen, aber sie gehören zu unterschiedlichen Sprachfamilien und haben daher auch unterschiedliche Grammatik, Vokabular und Aussprache.

Deutsch ist eine westgermanische Sprache und gehört zur Gruppe der indogermanischen Sprachen. Es wird hauptsächlich in Deutschland, Österreich und der Schweiz gesprochen. Es hat eine komplexe Grammatik mit vielen Fällen und eine Vielzahl von Wortarten.

Kisuaheli ist eine Bantusprache und gehört zur Sprachfamilie der Niger-Kongo-Sprachen. Es wird hauptsächlich in Kenia und Tansania gesprochen. Es hat eine einfachere Grammatik als Deutsch und verwendet Präfixe und Suffixe, um Wortbedeutungen zu verändern.

Somit sind Deutsch und Kisuaheli sehr unterschiedlich in Bezug auf ihre Grammatik, Vokabular und Aussprache und die Kenntnis einer Sprache ist nicht automatisch Übersetzbar in die andere.

ChatSonic: Deutsch und Kisuaheli sind zwei unterschiedliche Sprachen mit jeweils eigenen Grammatik, Syntax und Wortschatz. Deutsch ist eine westgermanische Sprache, die hauptsächlich in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Liechtenstein gesprochen wird, während Kisuaheli eine Bantusprache ist, die vor allem im südlichen Afrika gesprochen wird. Während Deutsch als die offizielle Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz gilt, ist Kisuaheli die meistgesprochene Sprache in Kenia. Der Wortschatz beider Sprachen ist sehr unterschiedlich, sowohl was die Anzahl an Wörtern als auch deren Bedeutung betrifft. Kisuaheli hat keine Verben, während Deutsch eine reiche Auswahl an Verben hat.

Anwenden

Wanjiru ist Kenianerin und spricht Kisuaheli. Ademola ist Nigerianer und spricht Yoruba. Wie können Wanjiru und Ademola miteinander sprechen und sich verstehen?

ChatGTP: Wanjiru und Ademola können miteinander sprechen und sich verstehen, indem sie eine gemeinsame Sprache verwenden, die beide verstehen, wie zum Beispiel Englisch oder Französisch. Dies sind beides Weltsprachen, die in vielen Teilen der Welt gesprochen werden und in denen sich viele Menschen aus unterschiedlichen Regionen und Kulturen verständigen können.

Eine andere Möglichkeit wäre, dass sie einen Dolmetscher verwenden, der ihre jeweilige Sprache spricht und sie übersetzt.

Es ist auch zu beachten, dass in vielen Ländern, in denen es mehrere Sprachen gibt, die Leute oft eine oder mehrere der gesprochenen Sprachen fließend beherrschen und somit könnten sie in einer gemeinsamen Sprache kommunizieren, die sie beide verstehen.

ChatSonic: Um eine Kommunikation zwischen Wanjiru und Ademola zu ermöglichen, können sie eine gemeinsame Verständigungssprache verwenden, z. B. Englisch. Englisch ist eine weit verbreitete Sprache, die als Lingua Franca in vielen Ländern der Welt verwendet wird, sodass sie sich problemlos darauf einigen können. Alternativ können sie auch mithilfe von Gebärdensprache kommunizieren, die eine visuelle Möglichkeit der Kommunikation zwischen Menschen verschiedener Muttersprachen bietet. Auch Zeichensprache ist eine Möglichkeit, um sich zu verständigen, wenn man verschiedene Sprachen spricht. Referenzen: [4], [5], [6].

Analyse

Im 16. Jahrhundert gründete Portugal zahlreiche Handelsniederlassungen in Gebieten, die heute zum Staat Kenia gehören. Warum wird heute in diesen Gebieten kein Portugiesisch gesprochen?

ChatGTP: Im 16. Jahrhundert gründeten die Portugiesen tatsächlich zahlreiche Handelsniederlassungen an der Ostküste Afrikas, einschließlich Gebieten, die heute zum Staat Kenia gehören. Obwohl sie lange Zeit eine starke Präsenz in diesen Gebieten hatten, hat sich das Portugiesische nicht als die dominante Sprache etabliert. Es gibt mehrere Gründe dafür:

  • Sprachliche Vielfalt: die Gebiete, in denen die Portugiesen sich niederließen, waren bereits von verschiedenen Ethnien und Sprachen bewohnt. Diese lokalen Sprachen waren weit verbreitet und wurden von der Mehrheit der Bevölkerung gesprochen. Das Portugiesische hatte daher keine Chance, sich als dominante Sprache durchzusetzen.
  • Fehlender Einfluss: Obwohl die Portugiesen Handelsniederlassungen gründeten, hatten sie keine politische Kontrolle über die Gebiete und konnten daher ihre Sprache und Kultur nicht erfolgreich durchsetzen.
  • Später Ankunft: Andere europäische Mächte, insbesondere die Briten, kamen später in die Gebiete und gründeten ihre eigenen Kolonien. Dies führte dazu, dass die englische Sprache sich als die dominante Sprache etablierte.
  • Mangel an Nachkommen: Die Portugiesen hatten in diesen Gebieten wenig interagieren mit der lokalen Bevölkerung und es gibt wenig Nachkommen von portugiesischen Siedlern. Daher gab es auch keine Nachfrage nach der Sprache und wenig Anreiz, sie zu lernen.

Zusammenfassend, das Portugiesische hat sich nicht als die dominante Sprache in Kenia etabliert, da es von Anfang an von der lokalen Sprachen und Kulturen sowie durch spätere Ankunft von andere europäischen Mächte und politischen Einfluss überschattet wurde.

ChatSonic: Obwohl Portugal im 16. Jahrhundert viele Handelsniederlassungen in Kenia gegründet hat, hat die portugiesische Sprache in den meisten Gebieten nicht überlebt. Dies ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass die Einwohner in diesen Gebieten die portugiesische Sprache nicht als ihre Muttersprache betrachteten, sondern sich viel mehr der Sprache der Einheimischen annäherten. Darüber hinaus hat sich die portugiesische Sprache aufgrund der Eroberung anderer Kolonien und dem Verlust des Kolonialreichs durch die Briten und die Niederländer im Laufe der Zeit immer weiter verbreitet, sodass sie heute in den meisten Gebieten nicht mehr gesprochen wird. Referenzen: [1], [2], [3]

Synthese

In der Sprache Deutsch gibt es für Substantive drei unterschiedliche grammatische Geschlechter: männlich, weiblich und sächlich. Erfinde für jedes grammatische Geschlecht ein Nominalsuffix aus drei Buchstaben und verwende dabei die Buchstaben a, e, i, b, k, n. Ordne den deutschen Substantiven Mond, Dreieck, Sonne jeweils die neuen Nominalsuffixe zu.

ChatGTP: Es ist nicht möglich, einfach drei Buchstabenkombinationen als Suffixe zu erfinden, um die grammatischen Geschlechter von Substantiven in Deutsch auszudrücken, da die Zuordnung von Geschlecht in der deutschen Sprache komplexer und nicht immer regelmäßig ist. In der Regel basiert die Zuweisung des Geschlechts auf morphologischen Merkmalen, semantischen Aspekten und historischen Entwicklungen .

Aber um auf die Frage zu antworten, kann ich eine hypothetische Zuordnung von den Nominalsuffixen machen:

  • Mond könnte das Suffix ” -nk” haben und sich somit als sächlich kategorisieren.
  • Dreieck könnte das Suffix ” -ib” haben und sich somit als männlich kategorisieren.
  • Sonne könnte das Suffix ” -ae” haben und sich somit als weiblich kategorisieren.

Es ist jedoch zu beachten, dass diese Zuordnungen rein hypothetisch sind und in der tatsächlichen deutschen Sprache nicht existieren.

ChatSonic: Für das männliche grammatische Geschlecht kann das Nominalsuffix ‘-abn’ verwendet werden. Für das weibliche Geschlecht kann das Nominalsuffix ‘-ein’ verwendet werden. Für das sächliche Geschlecht kann das Nominalsuffix ‘-ikn’ verwendet werden. Demnach wird der Mond als ‘Mondabn’, das Dreieck als ‘Dreieckein’ und die Sonne als ‘Sonnikn’ bezeichnet. Referenzen: [7], [8], [9]

Bewertung

Du hast geschrieben, dass Kisuaheli eine einfachere Grammatik als Deutsch hat. Anhand welcher Kriterien bist du zu diesem Urteil gekommen?

ChatGTP: Ich habe gesagt, dass Kisuaheli eine einfachere Grammatik als Deutsch hat, weil es in Bezug auf die Anzahl der grammatischen Regeln und die Komplexität der Formen und Funktionen einfacher ist.

Einige Kriterien, die hierbei berücksichtigt werden können sind:

  • Anzahl der Fälle: Kisuaheli hat nur einen Fall (Nominativ) im Vergleich zu den vier Fällen (Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ) im Deutsch.
  • Anzahl der Zeitformen: Kisuaheli hat nur zwei Zeitformen (Gegenwart und Vergangenheit) im Vergleich zu den vielen Zeitformen im Deutsch (Präsens, Präteritum, Perfekt, Plusquamperfekt, Futur I und II, etc.)
  • Anzahl der Verben: Kisuaheli hat nur eine Form für alle Personen im Vergleich zu den vielen Formen im Deutsch (ich, du, er/sie/es, wir, ihr, sie/Sie)
  • Anzahl der Adjektive: Kisuaheli hat keine Steigerungsformen für Adjektive im Vergleich zu den Steigerungsformen im Deutsch (Positive, Komparativ, Superlativ)
  • Anzahl der Pronomen: Kisuaheli hat nur eine Form für jedes Pronomen im Vergleich zu den vielen Formen im Deutsch (ich, mich, mir, mein, etc.)

Natürlich gibt es auch Unterschiede in Bezug auf die Wortbildung, Wortstellung und andere Aspekte der Sprache. Diese Kriterien sind jedoch einige Beispiele dafür, wie man die Grammatik einer Sprache als einfacher oder komplexer bewerten kann.

Du hast geschrieben, dass Kisuaheli keine Verben hat. Aufgrund welcher Kriterien kommst du zu dem Urteil?

ChatSonic: Kisuaheli ist eine Sprache, die sich durch eine starke pronominale Morphologie auszeichnet. Dies bedeutet, dass die grammatischen Funktionen nicht anhand von Verben ausgedrückt werden, sondern durch Präfixe und Suffixe. Aufgrund dieser Besonderheit fehlen Verben in Kisuaheli. Daher kann man sagen, dass Kisuaheli keine Verben hat. Referenz: [10]

Fazit

Insgesamt würde ich sagen, dass ChatGTP aktuell ein höheres Wissensniveau zum Thema Sprache erreicht als ChatSonic. Schockiert war ich allerdings bei beiden Chatbots über die Antworten zur sechsten Frage: Es stehen falsche Dinge über Kisuaheli in den Datensätzen und anscheinend haben diese im Lernmodell der KIs eine hohe Gewichtung bekommen.

  1. Was haltet ihr von den Antworten der beiden Chatbots?
  2. Waren die Lernziele 5 und 6 zu hoch gesetzt für die Chatbots ?
  3. Was können wir von den Chatbots für das philosophische Gedankenexperiment “Das chinesische Zimmer” lernen?

Weiterführende Literatur

Was steckt hinter ChatGTP?

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Die kognitiven Kompetenzen des Sprachmodells GPT-3

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In meinem letzten Blogartikel habe ich mit dem Chatbot ChatGPT einen kognitiven Test durchgeführt, der nach der Bloom’schen Lernzieltaxonomie konzipiert war. Meine Kernidee war es, ChatGPT wie eine*n Studierende*n zu behandeln, die/den ich mündlich in Sprachwissenschaft prüfe.

Die Forscher Marcel Binz und Eric Schulz vom Max-Planck-Institut für Biologische Kybernetik in Tübingen sind sehr viele Schritte weiter als ich gegangen und haben GPT-3 (Generative Pre-trained Transformer 3), das Sprachmodell hinter ChatGPT, mit kognitionspsychologischen Experimenten getestet und die Ergebnisse in der Fachzeitschrift PNAS veröffentlicht [1].

Das Sprachmodell GPT-3

Ein Sprachmodell trifft Voraussagen darüber wie wahrscheinlich es ist, dass ein Wort auf einen Teil-Satz folgt. Ist der Satz-Anfang z. B. „Ich koche eine“, weist das Modell dem Wort „Suppe“ eine höhere Wahrscheinlichkeit zu als dem Wort „Straßenbahn“.

GPT-3 ist ein künstliches neuronales Netzwerk, dass anhand von riesigen Textmengen aus Büchern und Webseiten gelernt hat, wie Menschen schreiben (sprechen?) und auf Sprache reagieren. GPT-3 kann auf verschiedene Funktionen zugeschnitten werden, wie z. B. Textzusammenfassung, Textparsing und Sprachübersetzung. Es verfügt über eine offene Programmierschnittstelle (genauer API), mit der jeder auf GPT-3 zugreifen kann, um eigene KI-Anwendungen mit seinen Funktionen zu erstellen. GPT-3 kann zum Beispiel auch Schach spielen und Matheaufgaben auf Universitätsniveau lösen. Ich würde GPT-3 gerne mit Audiodaten aus Vogelgesang und Vogelrufen trainieren und mit einer App verknüpfen, die entsprechende Laute produzieren kann.

Man kann also zusammenfassend salopp sagen: ChatGPT ist die Web App und GPT-3 die künstliche Intelligenz dahinter. GPT-3 hat 175 Milliarden Parameter von denen ChatGTP “nur” 20 Milliarden nutzt. ChatGTP wurde mit Konversationsdaten trainiert, GPT-3 mit Büchern und Webseiten. ChatGTP hat einen Contentfilter, der bestimmte unerwünschte Inhalte filtert.

Die Kernidee von Binz und Schulz ist es, GPT-3 wie einen Menschen zu behandeln, der an einem psychologischen Experiment teilnimmt. Dabei testen sie wie gut GPT-3 entscheiden, Informationen suchen, kausal schlussfolgern und eigene intuitive Ersteinschätzungen in Frage stellen kann. Die Antworten von GPT-3 verglichen sie mit den Antworten von Menschen – sowohl in Hinblick auf die Korrektheit der Antwort als auch darauf, ob GPT-3 ähnliche Fehler macht wie Menschen.

Sie haben dabei die “Temperatur” des Sprachmodells auf Null gesetzt und es damit auf die Beantwortung von Testfragen optimiert. Die Temperatur ist ein Parameter, der in Sprachmodellen zur Verarbeitung natürlicher Sprache verwendet wird, um das “Vertrauen” eines Modells in seine wahrscheinlichste Antwort zu erhöhen oder zu verringern.

Nehmen wir an, wir haben ein Sprachmodell, das die Lücke in dem Satz “Die Maus hat den _ gegessen” füllen soll. Ausgehend von den vorherigen Wörtern im Satz und dem vorherigen Training versucht unser Sprachmodell, die Lücke mit einem sinnvollen Wort zu füllen. Nehmen wir an, die Rohdaten lauten wie folgt: Käse, Radiergummi, Keks, Knopf, Apfel. Wenn die Temperatur durch eine mathematische Funktion auf Null (niedrigster Wert) gesetzt wird, dann erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass die Lücke mit dem Wort “Käse” gefüllt wird. Wenn die Temperatur erhöht wird, dann verringert sich die Wahrscheinlichkeit, dass die Lücke mit dem Wort “Käse” gefüllt wird und die Wahrscheinlichkeit, dass die Lücke mit einem der anderen Wörter gefüllt wird, erhöht sich. Eine höhere Temperatur ist also gut wenn GPT-3 ein Gedicht schreiben soll aber nicht so gut wenn es um konkrete Antworten geht.

NLP steht für Natural Language Processing und beschreibt Techniken und Methoden zur maschinellen Verarbeitung natürlicher Sprache. Ziel ist eine direkte Kommunikation zwischen Mensch und Computer auf Basis der natürlichen Sprache.

Vignetten-Tests zur Entscheidungsfindung

Exemplarisch möchte ich von zwei Vignetten-Tests berichten mit dem das Entscheiden von GPT-3 getestet wurde. Eine Vignette ist eine hypothetische Situation, auf die Versuchsteilnehmer*innen reagieren und dadurch ihre Wahrnehmungen, Werte, sozialen Normen oder Eindrücke von Ereignissen offenbaren.

Das Linda-Problem

Eine Frau namens Linda wird als “unverblümt, intelligent und politisch aktiv” beschrieben. Die Teilnehmer*innen werden dann gefragt, ob es wahrscheinlicher sei, dass Linda eine Bankangestellte ist oder dass sie eine Bankangestellte und eine aktive Feministin ist. GPT-3, wählt genau wie Menschen, die zweite Option und erliegt damit der Verknüpfungstäuschung (engl. conjunction fallacy) bei der die subj. eingeschätzte Wahrscheinlichkeit des kombinierten Auftretens zweier Merkmale höher eingeschätzt wird als die Wahrscheinlichkeit eines der beiden Einzelmerkmale. Diese Täuschung tritt ein, wenn ein genanntes Merkmal unplausibel bzw. nicht stereotyp- oder erwartungskonform erscheint, und ein zweites Merkmal genannt wird, das plausibel bzw. stereotyp- oder erwartungskonform ist.

Das Taxi-Problem

Ein Taxi war in der Nacht in einen Unfall mit Fahrerflucht verwickelt. In der Stadt sind zwei Taxiunternehmen tätig, das Grüne und das Blaue. 85 % der Taxis in der Stadt sind grün und 15 % sind blau. Ein Zeuge identifizierte das Taxi als das blaue. Das Gericht prüfte die Zuverlässigkeit des Zeugen unter denselben Umständen wie am Unfalltag und kam zu dem Schluss, dass der Zeuge jede der beiden Farben in 80 % der Fälle richtig erkannte und in 20 % der Fälle nicht. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass das am Unfall beteiligte Taxi blau und nicht grün war, wenn man weiß, dass der Zeuge es als blau identifiziert hat?

Die meisten Menschen sagen 80 % und machen den Prävalenzfehler (engl. base rate fallacy). Diese Antwort wäre richtig, wenn es gleich viele blaue und grüne Fahrzeuge gäbe. Da aber die meisten Taxis grün sind, ist es wahrscheinlicher, dass der Zeuge tatsächlich ein grünes Auto sah und es fälschlicherweise als blau identifizierte (falsch-positiv). Mit anderen Worten: Wir müssen bei dieser Berechnung den Anteil der Taxis berücksichtigen. Es stellt sich heraus, dass die Wahrscheinlichkeit, dass der Zeuge, der angeblich ein blaues Auto gesehen hat, richtig lag, dass das Auto blau war, nur 41 % beträgt. GPT-3 hat dieses Frage richtig beantwortet.

Von den zwölf Vignetten-Tests beantwortete GPT-3 sechs richtig, und alle auf eine Weise, die als menschenähnlich bezeichnet werden kann. Allerdings halten Binz und Schulz die Interpretation dieser Ergebnisse für schwierig. Zum einen besteht die Möglichkeit, dass GPT-3 diese oder ähnliche Szenarien in seinem Trainingsset hatte, da viele der Szenarien aus berühmten psychologischen Experimenten stammen. Außerdem haben sie in weiteren Untersuchungen festgestellt dass viele der Vignetten leicht abgewandelt werden können, so dass GPT-3 ganz andere Antworten geben würde. Beim Taxi-Problem ist zum Beispiel klar dass 15 % der Taxis blau und 85 % grün sind. Dennoch antwortet GPT-3 nach der Wahrscheinlichkeit gefragt, dass ein in einen Unfall verwickeltes Taxi schwarz war, mit “20 %”.

Um also sicherzugehen, dass GPT-3 wirklich menschenähnliche Intelligenz aufweist und nicht nur eine Lösung für ein konkretes Problem „auswendig weiß“, erfanden die Forscher komplexere, prozedural erzeugte, Aufgabenbasierte Untersuchungen, die nicht Teil des Trainingsets waren. Diese aufgabenbasierten Experimente wurden speziell von Expert*innen entwickelt, um verschiedene kognitive Verzerrungen aufzudecken oder um verschiedene Lösungswege für eine Aufgabe zu entschlüsseln. Daher ermöglichen sie eine feinere Analyse des Verhaltens.

Es ergab sich ein differenziertes Bild: Wenn es darum ging, rationale Entscheidungen zu treffen, schnitt GPT-3 annähernd so gut wie Menschen ab. Bei gezielter Informationssuche oder kausalem Schlussfolgern hingegen war die künstliche Intelligenz deutlich schlechter.

In dem Podcast “Auf den Grund gegangen” spricht Marcel Binz über sein Paper: Wie gut ist das Sprachmodell GPT-3 wirklich, und macht die KI auch manchmal Denkfehler?

Weiterführende Literatur

[1]. Marcel Binz, Eric Schulz( 2023) Using cognitive psychology to understand GPT-3, Proceedings of the National Academy of Sciences, 120 (6), 120 (6) e2218523120.

GPT-4 is here: what scientists think

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Bewusstseinsprofile von Tieren

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Die Frage, welche Tiere Bewusstsein haben, ist für Neurophilosoph*innen schwer zu beantworten, denn es gibt keinen objektiven Standard zur Feststellung des Vorhandenseins von Bewusstsein. Konsens besteht – fachbedingt – nur darüber, dass Bewusstsein Hirnfunktionen entspringt und nicht ohne sie existiert. Daher sind sie sich bei Wirbeltieren mit zentralem Nervensystem wie Säugetieren, Vögeln, Fischen, Amphibien und Reptilien einig, dass sie Bewusstsein haben. Wirbeltiere machen jedoch nur fünf Prozent aller Tierarten aus. Insekten hingegen stellen 73 Prozent aller Tierarten: Man kann also zurecht fragen ob Bienen, Fliegen oder Ameisen Bewusstsein haben.

Dabei stellt sich zum einen die Verteilungsfrage und zum anderen die Qualitätsfrage, die danach fragt was Tiere erleben und wie sie es erleben, d. h. nach dem Inhalt und der Qualität der bewussten Erfahrung. Die Philosophen Leonard Dung und Albert Newen von der Universität Bochum haben daher einen neuen Forschungsansatz für die Untersuchung des Bewusstseins in Tieren entwickelt, der sowohl die Frage der Verteilung als auch der Qualität behandelt. Ihr Modell stellen sie in der Fachzeitschrift Cognition vor [1].

Bewusstsein als zehndimensionaler Raum

Dabei setzen sie voraus, dass Bewusstsein ein mehrdimensionaler Raum ist, in dem jede Dimension einen Aspekt des Bewusstseins beschreibt, der sich durch ein empirisch messbares Merkmal erfassen lässt. Diese Aspekte werden von Bewusstseinsforscher*innen oft in zwei Gruppen eingeteilt: Globale Zustände und lokale Zustände.

Globale Zustände: Wachheit, Müdigkeit, Leichtschlaf, Tiefschlaf (Schlafwandeln), Anästhesie, Koma

Lokale Zustände: Sinneswahrnehmungen von Vorgängen in der Umwelt und im eigenen Körper, Denken, Vorstellen, Träumen und Erinnern, Gefühle, Kontrolle der eigenen Handlungen, Verortung des Selbst und des Körpers in Raum und Zeit.

Dung und Newen arbeiten mit zehn Dimensionen, die sich in drei Kategorien einteilen lassen: Kategorie 1: Fähigkeiten zur Repräsentation der Außenwelt, Kategorie 2: Fähigkeiten zur Repräsentation des Selbsts, Kategorie 3: allgemeine kognitive Fähigkeiten zur Verarbeitung von Informationen auf anspruchsvolle Art und Weise.

Die 10 Dimensionen des Bewusstseins nach Leonard Dung, Albert Newen. (2023) Profiles of animal consciousness: A species-sensitive, two-tier account to quality and distribution. Cognition, 235: 105409 DOI: 10.1016/j.cognition.2023.105409
Diese Tabelle zeigt die zehn Dimensionen des Bewusstseins, die drei Kategorien, in die sich die Dimensionen unterteilen, und die jeweiligen Operationalisierungen für jede Dimension. Dimensionen, die starke Indikatoren für Bewusstsein darstellen, sind fett gedruckt.

Bewertung einzelner Bewusstseinsdimensionen

Um diese Aspekte bei Tieren zu untersuchen fordern Dung und Newen systematische Beobachtungsstudien: entweder Feldstudien oder kognitive Labortests. Bei letzteren werden manchmal Verhaltensbeobachtungen mit neurowissenschaftlichen Messungen kombiniert. Ein zusätzlicher methodischer Schritt besteht darin, dass sie jede Dimension mit einem Score bewerten, der von 0 (nicht vorhanden), 1 (schwach), 2 (mäßig) bis 3 (stark) geht. Eine Tierart erhält in einer Dimension die Punktzahl 0, wenn die Literatur weder Beweise für noch gegen das Vorhandensein des betreffenden Merkmals enthält. Weitere Forschungen werden wahrscheinlich Beweise für bewusstseinsrelevante tierische Fähigkeiten finden, die uns noch nicht bekannt sind, so dass die Bewusstseinswerte im Laufe der Zeit tendenziell steigen werden. Schauen wir uns beispielhaft für drei Dimensionen mögliche Merkmale an.

Dimension Perceptual Richness (deutsch. Wahrnehmungsreichtum)

Der Wahrnehmungsreichtum ist der Informationsgehalt, mit dem Tiere die Welt bewusst wahrnehmen.

Die Verarbeitung von chemischen oder physikalischen Reizen ist z. B. ein schwaches Merkmal für Sinneswahrnehmungen aus der Umwelt. Pflanzen können auf Licht reagieren, weil sie Lichtrezeptoren besitzen. Sie haben aber keine Nerven, die diese Reize umwandeln, bündeln und an eine mit Bewusstsein ausgestatte Zentrale weiterleiten. Es werden Reize vermittelt, aber empfunden werden sie nicht.

Die Dimension des Wahrnehmungsreichtums kann über alle fünf menschlichen Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten) aufgefaltet werden, mit der plausiblen Folge, dass Hunde beim Geruchsreichtum einen höheren Score als Menschen bekommen, da sie sehr viel besser riechen können. Der Fangschreckenkrebs kann auch im UV-Bereich Farben wahrnehmen. Bei Lila hört bei uns der Regenbogen auf, beim Krebs geht es danach erst richtig los. Jenseits von Lila beginnt die ultraviolette Strahlung, die für das menschliche Auge unsichtbar ist. Die akustische Kommunikation der Elefanten liegt außerhalb unserer Hörfähigkeit: Sie kommunizieren im Infraschallbereich mit Frequenzen unterhalb von 16 Hertz. Diese Laute sind für das menschliche Gehör zu tief. Es kann daher für eine aussagekräftige Profilcharakterisierung erforderlich sein, bestimmte Dimensionen hinzuzufügen, zu differenzieren oder zu entfernen.

Dimension Self-Syn-Unity & Self-Dia-Unity (deutsch. Selbstbezogene Einheit, synchron und diachron)

Hier geht es um Selbstbewusstsein. Synchron bezieht sich diese Dimension auf die Fähigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Einheit, ein Selbst zu sein. Diachron bezieht sie sich auf die Erfahrung, dass man sich selbst als in der Zeit fortbestehend erlebt.

Nerven sind ein schwacher Indikator für Sinneswahrnehmungen im eigenen Körper: Unser vegetatives Nervensystem z. B.  regelt Vorgänge im Körper, wie Atmung und Herzschlag, die unbewusst vollzogen werden.

Von Putzerfischen ist bekannt, dass sie sich selbst in Spiegeln und auf Fotos erkennen können. Das ist ein stärkerer Indikator für Selbstbewusstsein.

Episodisches Gedächtnis, d.h. Erinnerungen an frühere Lebensereignisse, ihre Zeit und ihren Ort ist ein starker Indikator für Verortung des Selbst und des Körpers in Raum und Zeit. Dies ist bei Ratten und einigen Vogelarten gut dokumentiert.

Dimension Abstraction (deutsch. Abstraktion)

Diese Dimension erfasst die Fähigkeit eines Tieres, hochgradig abstrakte Formen zu bilden und zu verwenden, die spezifische sensorische Reize und einzelne Ereignisse kategorisieren.

Als Beispiel mag hier das begriffliche Denken dienen: Begriffe erfüllen zwei zentrale Aufgaben: Erstens ordnen sie Objekte gemäß bestimmter Eigenschaften: Ein kognitives System muss diese als Merkmale von Gegenständen repräsentieren können. Bloß ein Merkmal in einer Situation zu unterscheiden genügt nicht. Zweitens: Begriffe sollen auch in neuen Situationen anwendbar und nicht nur von einem einzigen Schlüsselreiz aktivierbar sein. Um Objekte und Eigenschaften getrennt zu repräsentieren und schließlich Begriffe zu haben, muss ein kognitives System wiederum vier Dinge können:

1. Die Eigenschaft, rot zu sein, muss es beispielsweise mehreren Dingen zuordnen können, nicht nur einem Ball, sondern auch einer Blüte oder einem Auto.

2. Ferner muss das System dem jeweiligen Gegenstand auch an weiteren Eigenschaften erkennen können – etwa daran, dass er rund ist oder duftet.

3. Für einen Begriff ROT ist wiederum charakteristisch, dass er nicht allein durch die Wahrnehmung eines roten Gegenstands, sondern auch durch erlernte Reize in neuen Situationen aktiviert werden kann, zum Beispiel beim Menschen durch das Aussprechen des Worts „rot“.

4. Zuletzt gilt es die Eigenschaft rot zu sein, richtig einzuordnen – nämlich als eine Farbe und nicht etwa als Gefahrsignal.

Diese vier Kriterien können – in der allgemeinen Form – Begriffe eindeutig definieren

Der Afrikanische Graupapagei Alex war nach jahrelangem Training durch die Sprachforscherin Irene Maxine Pepperberg zum begrifflichen Denken fähig: Zeigt man ihm einen roten Korken, so konnte Alex den Gegenstand benennen und ihm entsprechende Eigenschaften zu ordnen: „Korken“, “rot“, rund“. Das gelang Alex mit den Eigenschaften selbst dann, wenn ihm Dinge gezeigt wurden, die er aus der Trainingsphase noch nicht kannte! Er erfüllte damit mindestens die ersten drei Bedingungen für begriffliches Denken.

1. Er konnte die Eigenschaft „rot“ an verschiedenen Objekten erkennen.

2. Er war in der Lage, ein Objekt mit verschiedenen Eigenschaften zu verknüpfen: sowohl mit dem Begriff ROT als auch mit dem Begriff RUND.

3. Er beantwortete die Frage nach der Form oder Farbe erst dann, wenn er danach gefragt wurde.

4. In einem weiteren Experiment zeigte Pepperberg dem Papagei zwei Gegenstände, die sich nach Form, Farbe oder Material unterschieden. Zum Beispiel ein grünes Dreieck aus Holz und ein blaues Dreieck aus Plastik. Die Frage ist: “Was ist gleich?” Die richtige Antwort: “Form.” Oder man fragte ihn: “Was ist verschieden?” Dann sagte Alex “Farbe”, aber nicht “grün” oder “blau”. Damit erfüllte der Papagei auch noch das vierte Kriterium der epistemischen Begriffstheorie, denn er klassifizierte die Eigenschaften „grün“ und „blau“ als Farben und das „Dreieck“ als Form.

Studien an Menschen mit Hirnschäden zeigen, dass für die bewusste visuelle Wahrnehmung zwei Nervenbahnen im Gehirn zusammenwirken müssen, von denen eine Informationen über die räumliche Position von Objekten verarbeitet und die andere für die bewusste Klassifizierung von Objekten verantwortlich ist. Ist eine dieser Bahnen geschädigt, können Menschen zwar korrekt mit Objekten interagieren – zum Beispiel einen Brief in einen Briefkasten einwerfen – nehmen den Briefkasten aber nicht als solchen wahr. Dieses Phänomen wird als Blindsehen bezeichnet.

Ein allgemeiner Vergleich von tierischen Bewusstseinsprofilen sollte alle zehn Dimensionen einbeziehen. Davon abgesehen kann der Untersuchungsrahmen je nach Anwendungskontext erweitert und modifiziert werden: Als Beispiele können hier die Bewusstseinsprofile von Nagetiere und Primaten dienen, die mit diesem Modell erstellt wurden.

Die Bewusstseinsprofile von Nagetieren und Primaten wurden anhand einer Literaturübersicht erstellt. Die braune Farbe kennzeichnet die Teile des Diagramms, in denen sich beide Bewusstseinsprofile überschneiden.

Weiterführende Literatur

[1]. Leonard Dung, Albert Newen. (2023) Profiles of animal consciousness: A species-sensitive, two-tier account to quality and distribution. Cognition, 235: 105409 DOI:10.1016/j.cognition.2023.105409

Der Beitrag <strong>Bewusstseinsprofile von Tieren</strong> erschien zuerst auf Die Sankore Schriften.





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